Nach Santiago - wohin sonst
übernachten zu lassen, aber sie hat den Schlüssel zur Sakristei und erlaubt mir, mich dort für die Nacht einzurichten. Ich darf aber niemandem etwas sagen! Sonst erfährt es der Pfarrer — der nur alle heiligen Zeiten zum Meßlesen vorbeikommt — , und der hat ihr streng verboten, Leute in der Sakristei übernachten zu lassen, nachdem er einmal einen Clochard hatte rausschmeißen müssen, dem sie aus Mitleid für eine Nacht aufgesperrt und der sich dann dort eingenistet hatte.
Die Sakristei ist kalt, aber trocken, und nur das zählt im Moment. Und außerdem, ist der Nebenraum einer Kirche nicht der ideale Schlafplatz für einen Pilger?
Ich schaffe etwas Ordnung in dem total verschmutzten und verstaubten Raum und zünde ein Dutzend Kerzenstummel an, die ich im Schrank neben den von Motten zerfressenen Priestergewändern finde. Das heizt ein bißchen und schafft eine heimelige und wärmende Atmosphäre. Ich binde die zwei einzigen schmalen Holzbänke mit meinem Gürtel zu einem engen und harten „Büßerbett“ zusammen — irgend etwas habe ich sicher abzubüßen! Ein heißer Tee und eine heiße Suppe — ich bin heilfroh um meinen kleinen Gaskocher! — heben die Stimmung, innerlich und äußerlich, und ich bin eigentlich wieder rundherum zufrieden. Gemessen an dem, was mich sonst in dieser Nacht an „Komfort“ erwartet hätte, kommt diese Sakristei dem Paradies ziemlich nahe!
Freitag, 3. März Villelongue — La Roussarié
Schnee
Über Nacht hat es aufgeklart, und ich erlebe einen Morgen von einzigartiger Schönheit. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, die Kirche und der kleine Friedhof am westlichen Seeufer liegen noch im Halbdunkel. Im Osten taucht die aufgehende Sonne jedoch schon die wenigen Wolken am Horizont in zartes Rosa, das sich in der von keinem Windhauch bewegten Oberfläche des Sees spiegelt. Kein Laut unterbricht die absolute Stille, die über all dem liegt, und ich sitze lange, mit dem Blechnapf heißen Tees in den Händen, auf der Friedhofsmauer und lasse die Schönheit dieses Gemäldes, wie es nur die Natur selbst schaffen kann, in mich dringen, auf daß ich es nie vergessen möge. Ich weiß nicht, ob Hunde für die Schönheit der Natur empfänglich sind, aber wie ich Ajiz so neben mir sitzen und auf den See hinausblicken sehe, vollkommen bewegungslos und genauso still wie ich, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er vom Zauber dieses Augenblicks ebenfalls berührt wird.
Aber wie das mit Zaubern eben so ist, sie währen nicht lange. Es gelingt mir gerade noch, ein paar Photos zu machen, da verrammeln schon schwere Regenwolken binnen Minuten den gerade noch hellblau-rosa Himmel, und es dauert nicht lange, bis die ersten Tropfen fallen. Voller Optimismus hatte ich mein Regenzeug schon eingepackt, doch aus dem regenfreien Wandern wird nichts, und wie sich später herausstellt, für längere Zeit nichts. Weder Ajiz noch ich haben besondere Lust, bei strömendem Regen loszumarschieren, aber was soll’s, wir sind beide nicht aus Zucker, das halten wir schon aus. Ich nehme noch Abschied von der alten Frau, die sich ganz besorgt erkundigt, wie ich die Nacht verbracht habe, und mir noch eine Tasse Kaffee anbietet. Und dann tut sie etwas, was mich schlagartig in die Zeit der Pilger des Mittelalters zurückversetzt: Sie sagt zu mir „Priez pour moi a Compostelle!“ — Beten Sie für mich in Compostela! — heutzutage hätten wir alle dies so nötig. Dieser Satz wird Pilgern seit Jahrhunderten auf ihrem Weg mitgegeben. Sie wurden immer — und werden es zu meiner Überraschung heute noch — als Träger und Überbringer von Bitten und Gebeten gesehen und deshalb mit besonderem Respekt behandelt. Ich bin erfreut darüber, daß diese Tradition heute noch im Gedächtnis der Menschen verankert ist und auch gepflegt wird! Die Geste der alten Frau hat mich sehr berührt, und was die Notwendigkeit von Gebeten in der heutigen Zeit betrifft, kann ich ihr nur recht geben.
Die Stimmung ist also trotz des Regens gar nicht so schlecht, außerdem ist der Weg gut markiert, verläuft meistens auf der historischen Route und ist sehr angenehm zu gehen.
Aber nur bis Salvetat sur Agout. Im Ort decke ich mich wieder mit Lebensmitteln ein, und wie ich durch die Straßen gehe, identifizieren mich einige als Jakobspilger und rufen mir gute Wünsche für den noch weiten Weg nach Santiago zu. Einer ist besonders witzig und verrät mir ein großes Geheimnis: „T’es pas encore arrivé!“ — Du bist
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