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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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(2011)
Über entfesselte Wissenschaft, frivole Wachstumspolitik und das verdrängte Restrisiko 7
    Herr Professor Spaemann, Sie sind seit Jahrzehnten eine kritische Stimme in der Debatte um die ethische Vertretbarkeit der Atomenergie. Warum halten Sie Atomkraft für eine höchst problematische Variante der Energiegewinnung für die Menschheit?
    Weil wir die Technologie nicht beherrschen. Es hat mit der Atomkraft ja militärisch begonnen: mit der Atombombe. Da war gleich der gute Geist aus der Sache weg – und dann kam erst der Gedanke der friedlichen Nutzung. Man behauptete zwar, das Risiko sei gering, es hat jedoch nie jemand gewagt zu sagen, das Risiko gebe es nicht. Aber die eiserne Regel lautet: Was einmal schief gehen kann, das geht auch einmal schief.
    Die Atomtechnik ist von Ausmaßen, die nicht verantwortbar sind. Dieser kleine Planet ist uns zu treuen Händen übergeben; es gibt kein größeres Verbrechen, als einen ganzen Lebensraum unbewohnbar zu machen.
    Die Frage des hervorragenden Nutzens der Atomenergie wiegt das nicht auf?
    In keiner Weise.
    Wer ist für die Situation, die jetzt eingetreten ist, verantwortlich?
    Viele Dinge, die wir tun, sind mitursächlich für etwas, das schlimme Folgen hat. Aber das Schlimme ist nicht direkt durch unser Tun entstanden, sondern durch ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren, von denen einer unser Tun war. In diesem Sinne gibt es viele Verantwortliche: die Kernphysiker, die Wirtschaftstreibenden, dann die Politiker. Die Frage ist: Wer trägt eigentlich die persönliche Verantwortung in dem Sinne, dass man sagen kann: Er ist schuld?
    Carl Friedrich von Weizsäcker erzählte mir, wie er zusammen mit den anderen gefangenen Atomphysikern in Amerika vom Abwurf der beiden Atombomben über Japan erfahren hatte. Er sagte mir: Unsere erste Reaktion war: »Wow, es funktioniert also doch.« Erst allmählich folgte die Erkenntnis: »Das ist schrecklich.«
    Von der Schuld über die ersten, tiefen Gefühle der Befriedigung sind die Wissenschaftler nicht freizusprechen. Obwohl Weizsäcker vom sogenannten Restrisiko wusste, hatte er sich, als er in Österreich Bruno Kreisky beriet, für den Bau von Atomkraftwerken eingesetzt. Und zwar unter der Prämisse: Unter normalen Umständen könne nichts passieren. Die Gefahr von Krieg und Terrorismus könne man nicht in Rechnung stellen. Ich erwiderte damals: Bei einem Gefahrenpotential mit Jahrtausendfolgen müssen wir gerade Extremsituationen in Rechnung stellen.
    Diese Faszination von »Wow, es funktioniert« ist auch ein Bild für den faustischen Menschen in seinem Wissens- und Machtstreben. Ist die von uns geschaffene Risikokultur bereit, die eigene Lebensumwelt fahrlässig aufs Spiel zu setzen?
    Ja. Die beteiligten Akteure selbst würden zwar behaupten: Wir haben nicht mit diesem Extremfall gerechnet. Aber sie hätten eben damit rechnen müssen. Auch in Japan ist nichts passiert, das schlechthin unvorhersehbar war.
    In Ihrem Essay »Nach uns die Kernschmelze« (FAZ 2006, hier S. 86) haben Sie dargelegt, dass die Beweislast der Vertretbarkeit von Atomenergie bei denen liege, die die Atomkraftwerke für sicher halten. Sie bezeichneten deren Kalkül ironisch als »das Prinzip Hoffnung«.
    Die Frage nach der Beweislast in der Bewertung eines Risikos ist entscheidend. Gerade hierin gab es einen großen Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit. Im Mittelalter galt das Prinzip des sogenannten Tutiorismus: Man muss sicher sein: in dubio pro reo, in dubio pro vita  – im Zweifelgilt das Prinzip der Erhaltung. Wenn die Risiken, wie in diesem Fall, zu groß werden, und wenn sie gar über Jahrtausende neue Risiken schaffen, liegt die Beweislast bei den Atomkraft-Lobbyisten. Da muss wieder das alte tutioristische Prinzip gelten, das eine Zeit lang ausgehebelt war. Der Unfall in Japan ist eine Folge des neuzeitlichen Prinzips, das sich weithin bei uns durchgesetzt hat: In dubio pro libertate .
    »Im Zweifel für die Freiheit« als ein Prinzip des Fortschritts auf Kosten der Nachhaltigkeit?
    Ja. Und das betrifft in unserem konkreten Fall die Freiheit, Atommeiler zu betreiben, ehe die Frage der Endlagerung des radioaktiven Materials verantwortlich geklärt ist. Das nenne ich »das Prinzip Hoffnung«: Man fängt schon einmal an und weiß nicht, ob man je eine Lösung finden wird. Das ist frivol.
    Kants Kritik der reinen Vernunft steht gewissermaßen an der Wiege der wissenschaftlichen Methoden: Wechselwirkungen von vernunftgeleiteten Theorien und ihrer

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