Nachdenken ueber Christa T.
Gesellschaft, wenn sie auf Gesellschaft aus war, war sie nicht wählerisch. Jeden fragte sie aus, schnitt ihm das Wort ab, wenn er abschweifte: Keine Deutung, mein Lieber, die wahre Wirklichkeit, das wirkliche Leben. Wirklichkeitshungrig saß sie in ihren Seminaren und wurde nicht satt von den Lehrmeinungen über Bücher, sah reihenweise die Dichter der Vergangenheit noch einmal ins Grab sinken, da sie nicht genügten, uns nicht. Kaltblütig ließen wir sie hinter uns in ihrer Unvollkommenheit. Christa T., angreifbar durch Liebe und Ehrfurcht, zog sie abends wieder hervor, wenn sie bis zuletzt, bis keiner mehr da war, im Seminar blieb. Die Stimmen, die tagsüber nicht mehr stritten – denn der heftige Streit der früheren Jahre war in Einstimmigkeit übergegangen, Monologe nach dem immer gleichen Textbuch wurden gehalten –, nachts kamen sie in ihr wieder auf. Die Macht der Tatsachen, an die wir glaubten ... Aber was ist Macht? Was sind Tatsachen? Und schafft nicht auch Nachdenken Tatsachen? Oder bereitet sie doch vor? Der Pilot , schrieb sie auf den Rand eines Heftes, der die Bombe auf Hiroshima geworfen hat, ist ins Irrenhaus gegangen .
Sie machte sich auf den Weg nach Hause. Vor einem Blumenladen in der Innenstadt standen ein Dutzend Menschen, die schweigend warteten, daß um Mitternacht eine seltene, hell angeleuchtete Orchidee für wenige Stunden ihre Blüte entfalten sollte. Schweigend stellte Christa T. sich dazu. Dann ging sie getröstet und zerrissen nach Hause.
Sie erinnerte sich später nicht, wie sie in ihr Zimmer und ins Bett gekommen war. Als sie am nächsten Mittagerwachte, hatte sie eine Klausurarbeit verschlafen. Sie trat ans Fenster und sah, daß nur noch kleine Inseln von Schnee im Vorgarten sich hielten. Bald, dachte sie glücklich ohne Grund, wird es wieder an der Zeit sein, diese Ziersteine abzuwaschen. Sie lachte und sang, sie ging in die Küche zu der Dame Schmidt und überzeugte sie, daß sie nicht umhinkam, mitten in der Woche ein Bad zu nehmen. Die Dame Schmidt ergab sich seufzend – aber nicht vollaufen lassen die Wanne! –, Christa T. lachte immer noch und ließ das Wasser bis an den Rand steigen. Dann zog sie sich frisch an und kaufte für ihr letztes Geld das teure Vogelbuch, das sie schon lange haben wollte. Sie setzte sich in den zerschlissenen Lederstuhl und sah es in Ruhe an. Morgen würde sie sich allerlei Entschuldigungen ausdenken, aber sie war nicht bange, daß sie sie im rechten Augenblick überzeugend zur Hand haben würde.
7
Ein neues Großstadtglück hab’ ich gewonnen,
hoch auf dem Dach, die Stadt zu meinen Füßen.
Im Dämmern schon das Häusermeer versponnen,
von Osten noch die schlanken Türme grüßen.
Noch schießen Schwalben kühne Linien, Bogen
am grünen, reinlich kühlen Abendhimmel.
Schon brechen aus den Häusern Lichterwogen,
die Straßenzüge füllt ein schwarz Gewimmel.
Ich stehe, möchte leise für mich singen.
Der Abendwind bringt süße Lindendüfte.
Es wäre schön, die Nacht hier zu verbringen. –
Ich steig’ hinab in dunkle Stubengrüfte.
Zwölf, dreizehn Jahre, die noch vor ihr liegen. Soll man wünschen, sie hätte die Formel für sich früher gefunden? Sie wäre ins reine gekommen mit sich? Die Spannung hätte nachgelassen? Die Schwingungen wären flacher geworden zwischen mühelosen, glücklichen Aufschwüngen und schrecklichen Abstürzen? Ich weiß doch nicht ...
Sie hielt dafür, daß man alle Farben gesehen haben soll. Ich aber, der Versuchung ausgesetzt, schön und gut zu finden, alles, wie es ihr nun einmal oder wie es durch sie geschehen ist, ich lege ihr Gedicht vor mich hin, wenn ich Lust auf Zorn habe. Ein loses Blatt, eines, das sich gehalten hat, entgegen seiner Bestimmung, möchte man meinen. Die verlorenen kennt man nicht, hat man auch nicht kennen sollen. Auch dieses hat zu ihren Lebzeiten keiner gesehen. Warum, ist nicht schwer zu erraten. Ihr Geschmack war sicher. Sie hat natürlich die Reime belächelt, das »Häusermeer«, die »Lichterwogen« glatt verworfen, die »süßen Lindendüfte« bemängelt. Immerhin hätte auch sie nichts sagen können gegen die Einfachheit des Ganzen, gegen den Ton wahrer Empfindung. Nichts könnte rührender sein als der Punkt am Ende der Strophe. Vier Punkte gleich in der letzten, und zwischen dem dritten und vierten der Gedankenstrich: Zwischen dem Wunsch und seiner Überwindung, zwischen Sehnsucht und Zurückweisung der Sehnsucht. Es wäre schön, die Nachthier zu verbringen. – Ich
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