Nachdenken ueber Christa T.
Irrtum denkbar, und er muß es wissen. Er schweigt. Sieht zu, wie das Schweigen sich steigert auf einen unerträglichen Punkt. Da stützt er sich auf den Ellenbogen, da sagt er: An einem Tag im schönen Mond September ... Die ganze Geschichte von einer gewissen Marie A., halblaut, mit einem Lächeln, das weiß, was es tut undsich entschuldigt und noch Verständnis verlangt, daß es nicht anders kann.
Du aber, wenn du mein Gesicht nicht mehr weißt, wirst wissen, dieses Gedicht hab ich ihr aufgesagt, da und da, an einem blauen Tag im September. Und der Dichter, der dir einfiel, hat vor langen Jahren für dich mit allen deinen Mädchen geschlafen, auch mit mir, ach Kostja ... Alles, alles hast du in deinen Büchern schon erlebt, die Wirklichkeit könnte dich nur noch beschmutzen. Ich aber weiß nichts, ehe ich es nicht probiert habe.
Sein Gesicht nahe vor dem ihren, sagt sie: Ach, Kostja. Die Marie A., wenn sie dir übern Weg liefe, sie wär ja nichts als ein verworfenes Frauenzimmer, und du machtest einen Bogen um sie. Aber es gibt sie, ja, es gibt sie ja immer in Wirklichkeit, ehe sie ins Gedicht kommt und du sie nun ruhig bewundern kannst ... Hagestolz, sagt sie, denn nun will sie ihn auch verletzen. Aber er ist schuldbewußt und großmütig und erwidert immer nur: Ich weiß.
Die eine, sagt sie, die eine einzige, für die du dich aufhebst: Sie allerdings gibt es nicht. Man muß sie sich machen. Die einfachsten Dinge verstehst du nicht ...
Ich weiß, sagt er reumütig, und sie sieht seinen Augen an, daß ihm hundert Verszeilen durch den Kopf gehen, für jeden ihrer Sätze eine. Daß er nicht aufhören kann, ihnen zu lauschen und ihre wirklichen, aber unvollkommenen Sätze an ihnen zu messen. Eines Tages, sieht sie, wird er das eine mit dem anderen vertauschen: die Verse, nun Wirklichkeit geworden, und der Mensch, der ihm begegnet, ihnen allenfalls ähnlich: Wie das Leben selbst, wird er erstaunt und befriedigt denken.
Zehn Jahre später wird er ihr einen Brief schreiben. Sie wird schon krank sein, der Gedanke an den Tod wird sie schon berührt haben, aber noch ist Hoffnung, der Tag am Stausee ist allerdings sehr fern. Sie wird den Brief lesen wie eine alte, fast vergessene Geschichte, und ich werde seinen Brief mit ihren übrigen Papieren bekommen. Er möge mir verzeihen, ich habe ihn gelesen. Das würde ich wieder tun, mit und ohne Verzeihung, mit und ohne ein Recht dazu. Nicht ohne Schuldgefühl, nicht ohne den Wunsch, mein Eindringen zu bezahlen. Mit Gerechtigkeit, soweit das möglich ist.
Nun ja, das Mädchen, das in seinem Brief auftritt, als seine Frau, hat es gegeben, kleine Schwester, blond, schutzbedürftig. Schutz vor allem gegen sie, Christa T. Auch darin hat sie ihn von Anfang an durchschaut. Inge mußte sie heißen, die blonde Inge, beziehungsreicher Name. So stellte er sie ihr vor, mit beziehungsreichem Lächeln, und sie verstand: Man würde in Zukunft zu dritt sein. Daran war nichts zu ändern. Sie liebte, er hatte sie in der Hand. Besser gleich den Sprung tun als viele kleine schmerzhafte Schritte: Kleine Schwester, sagte sie leise, und zum erstenmal sah sie in seinen Augen etwas wie Bewunderung. Warum es später doch zuviel für sie wurde, läßt sich vermuten mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, so daß ich nicht zögere, es als wahr und wirklich wiederzugeben. Kostjas Brief spielt, in gebotener Zurückhaltung, auf die Vorgänge an, oder wie man es sonst nennen will, und ihr Zeugnis ist ihr Tagebuch. In beiden allerdings haben die Ereignisse andere Spuren hinterlassen, auf andere Weise machen sich die geheimen Manipulationen und Ausflüchte der Erinnerung geltend, anders geht bei jedem die eilfertige,gefährliche Arbeit des Vergessens vor, so daß man, je nach dem Zeugen, dem man sich anvertraut, die Spuren leugnen oder sie übertreiben kann: Das wären, soviel ich sehe, die Vorbehalte, die gegen mein Verfahren gelten könnten und gegen die sich zu verteidigen sinnlos wäre. Es sei denn ... Immer gibt es ein »Es sei denn«.
Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen. Wenn man es aber erzählen kann, wie es war, dann ist man nicht dabeigewesen, oder die Geschichte ist lange her, so daß einem Unbefangenheit leichtfällt. Allein daß man trennen muß und hintereinanderreihen, um es erzählbar zu machen, was in Wirklichkeit miteinander vermischt ist bis zur Unlösbarkeit ... Dies war, soviel ich sehe, immer der Fall bei ihr, Christa T. Niemals hat sie auseinanderhalten können,
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