Nachdenken ueber Christa T.
sie vertragen ja auch alle miteinander nicht allzuviel, und ihre Mittel sind gering, sich zu wehren. Darin liegt doch ihre Lebensschwäche .
Das verräterische »Doch«. So spricht man gegen Einwände. So redet man von Mitlebenden, an denen sich zu messen man nicht umhinkann. Wer jetzt ihre unaufhaltsame Rede aufhalten könnte! Wer sie zwingen könnte, aufzublicken, anzuhören, was man ihr entgegenhalten möchte, jetzt endlich entgegenhalten, warumerst jetzt? Aber sie fährt fort, ihre Erfahrungen zu unterbreiten, ihre Stimme hebt sich nicht, ruft sich selbst zur Ordnung, verweist sich die Faszination, die unverkennbar war: Ihn hat der Konflikt zwischen Wollen und Nicht-Können in den Lebenswinkel gedrängt ...
Und zeigt nun sogar – woher bloß, zu jener Zeit? – Einsicht in die Grundlagen des Tragischen, das sie, anstelle seines unglücklichen persönlichen Bewußtseins , ihrem Dichter abverlangt. Der Widerspruch, in dem er lebte, hätte ihn zerreißen sollen. Er aber, der letzter geistiger Konsequenz aus dem Wege geht , bleibt vergleichsweise heil, klagt aus, was sein empfindsames Gemüt verletzt, ehe die Konflikte ihre volle Höhe und Schärfe gewinnen können .
Dies im Ton des Getroffenseins. Wen weist sie da zurecht? Kleinlich ist sie nicht, wenn sie streng wird. Die Verpflichtung, tragisch zu enden oder sich einer vollen Lebensleistung stellen. Also glücklich zu sein. Alles dazwischen ist Schwäche.
Und dann, wenn man es schon nicht mehr erwartet, tritt sie doch noch selbst hervor, unverhüllt, »ich«. Man glaubt, nicht recht zu hören; was kann sie dazu gebracht haben, ihre eigene Kindheit der des Dichters gegenüberzustellen? Zwang zur Selbstbehauptung, nach so viel Selbstkritik? Von der Reaktion eines normalen Lesers – meine eigene – auf eine Novelle des Dichters Storm soll die Rede sein, des Dichters, dem die stillen Orte, die den Knaben tief beeindrucken, zur Sehnsuchtslandschaft geworden sind. Ähnliche Erlebnisse der eigenen Kindheit wachen auf. Pirschgang auf Rotwild mit dem Förster im Hochwald – Rückkehr in denBaumgarten des Großvaters. Ganz hinten von dichten grünen Büschen eingeschlossen das Bienenhaus mit den summenden Körben an der offenen Sonnenseite, die einfachen Geräte an der Holzwand, auf der Bank der Geschichten erzählende Großvater, das liebe schöne Gesicht der Großmutter im Blättergewirr der Heckenpforte – ein Teil unvergessenen dörflichen Kinderglücks wird lebendig. Grüngolden sind die Farben der Erinnerung .
Da ist sie wieder, die Sprache ihrer Skizzen, da ist wieder ihre Stimme. Einmal wird sie ja doch aufhören müssen zu reden, der Augenblick, da die Stimme versagt, steht nahe bevor, und zu unterbrechen ist sie nicht. Manches geht, in Erwartung des Endes, an mir vorbei. Jetzt ist es soweit. Jetzt sagt sie, ohne zu stocken, auch diesen letzten Satz:
Manche der Gedichte und Novellen dieses Dichters werden nicht vergehen. Nur werden sie von den späteren glücklicheren Menschen anders verstanden werden. Weniger einsame Trauer wird aus ihnen rinnen. Eher wird ein hohes Lebensgefühl sich in ihnen wiederfinden, eine Schwermut des Glücks in den einsamen Stunden, die zu allen Zeiten auch der heiterste Mensch braucht. Storms schönste Dichtungen werden als Sehnsuchtsbild menschlicher Schönheit noch länger gelesen und geliebt werden .
Dies: Sie finden und noch einmal verlieren, war der gesuchte Punkt des Berichts. Beides wissen, beides annehmen. Hingehen, den ersten Satz schreiben: Nachdenken, ihr nachdenken. Dann Satz für Satz. Monatelang kein Tag ohne sie, bis nur noch übrigbleibt, sie wieder zu entfernen. Ihren Beistand, dessen man sich geradeversichert hat, wieder entziehen. Oder seiner nun erst recht sicher sein.
Das meiste ist getan.
12
Unsere Silvesterfeiern waren dann schon in Berlin, in unserer Wohnung zwischen S-Bahn, Kohlenplatz und Kraftwerk, die sie, Christa T., manchmal anlief wie einen Hafen, denn mit ihrem eigenen Leben verglichen war sie fest. Sie aß mit uns Abendbrot, spielte mit dem Kind, sie sagte: Ich werde mal fünf Kinder haben, und ich fragte: Von wem denn bloß? Dann zuckte sie die Achseln. Sie kauerte sich hin und hörte sich die neuen Schallplatten an, dann machten wir ihr in der Veranda ihr Bett. Sie schlief aber nicht. Also was ist? fragte ich sie, stört dich die S-Bahn?
Keineswegs. Ich zähle die Züge. Eben haben sie im Kraftwerk Feuer in den Himmel gejagt. Trotzdem gibt’s in eurem Garten eine Nachtigall.
Du
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