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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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brütest doch was aus, sagte ich. Ich dachte ja immer noch, man müsse auf sie aufpassen, sie »an die Hand nehmen«, wie der Ausdruck heißt. Oder sie doch wenigstens behüten.
    Es ist sehr komisch, sagte sie, wie wir doch alle was geworden sind.
    Nun, dieses Gefühl muß man heute schon erklären. Doch zuerst lasse ich sie ausreden. Sie sagt nämlich noch oder fragt: Denk mal nach. Lebst du eigentlich heute, jetzt, in diesem Augenblick? Ganz und gar?
    Erbarm dich! sagte ich, worauf läuft das hinaus?
    Heute möchte ich ihr die Frage zurückgeben können. Denn sie hat ja recht gehabt, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Nichts hat uns ferner gelegen als der Gedanke, man würde eines Tages irgendwo ankommen und fertig. Etwas sein und gut. Wir waren unterwegs, und etwas Wind war immer da, mal uns im Rücken, mal uns entgegen. Wir sind es nicht, doch wir werden es sein, wir haben es nicht, doch wir werden es haben, das war unsere Formel. Die Zukunft? Das ist das gründlich andere. Alles zu seiner Zeit. Die Zukunft, die Schönheit und die Vollkommenheit, die sparen wir uns auf, eine Belohnung eines Tages, für unermüdlichen Fleiß. Dann werden wir etwas sein, dann werden wir etwas haben.
    Da aber die Zukunft immer vor uns hergeschoben wurde, da wir sahen, sie ist nichts weiter als die Verlängerung der Zeit, die mit uns vergeht, und erreichen kann man sie nicht – da mußte eines Tages die Frage entstehen: Wie werden wir sein? Was werden wir haben?
    Obwohl zum Innehalten die Zeit nicht ist, wird einmal keine Zeit mehr sein, wenn man jetzt nicht innehält. Lebst du jetzt, wirklich? In diesem Augenblick, ganz und gar?
    Wann, wenn nicht jetzt?
    Vormittags ist sie in der Schule, Christa T., davon reden wir noch. Kaum geht sie zurück in ihr dunkles Schlauchzimmer, zu der schmuddligen Wirtin, ruht sich aus, die Müdigkeit der ersten Arbeitswochen ist unbezwinglich. Dann geht sie los. Jeden Nachmittag läuft sie durch die Stadt.
    Flüchtige Notizen in dem rotbraunen Büchlein. Die jungen Frauen sind überraschend schön geworden. Dieschnellen Blicke, wenn zwei sich begrüßen auf dem Bahnhof, heute. Oh, sie sind auf der Höhe, diese jungen Frauen, wie sie schnell noch nach Feierabend durch die Geschäfte laufen, die Kinder aus der Krippe holen; am meisten sieht man ihren Händen an, kräftig, doch nicht ohne Gefühl, sie halten auch den Mann noch, wenn’s sein muß, wer hat es ihnen beigebracht? Sie, Christa T., als Gleiche unter Gleichen. Ihr Lächeln, ihr Gang, die Bewegung, mit der sie einem gefallenen Kind aufhilft. Die Ironie, mit der sie einen störrischen Schüler zur Vernunft bringt. Die Festigkeit, mit der sie auf sauberer, ehrlicher Arbeit besteht. Nachlassen, meine Lieben, dürfen wir allerdings nicht.
    Warum eigentlich nicht? Weil die großen Entwürfe niemals aus sich selber leben, sondern aus uns gespeist werden. Edel sei der Mensch. Sie klappt das Buch zu, ein Mädchen in der letzten Reihe kämmt sich verstohlen das Haar. Wir müssen groß von uns denken, sonst ist alles umsonst. Sagt es die Lehrerin, sagt sie es nicht? Lernt es auswendig, sagt sie. Meinetwegen kämmt euch die Haare dabei, steht am Fenster und wartet auf euern Freund. Nur einmal denkt die Sätze als eure eigenen. Denn das unterscheidet ihn ... Es war doch groß gedacht.
    Mensch, hörte sie einen Jungen in der Pause sagen. Manchmal könnt ich mich totlachen über die Neue. Jetzt soll man auch noch die Lesebuchgedichte ernst nehmen! – Der andere zuckte bloß die Schultern. Ich kann’s schon auswendig, sagte er, kleine Mühe. Er zog einen Detektor aus der Tasche. Gefunden, sagte er, ein prima unausgeweidetes Trümmerfeld. Meinst du, mit dem läßt sich noch was machen? – Sein Freundbekam einen Ausdruck, den Christa T. in ihren Stunden noch nie an ihm gesehen hatte. An diesem Tag blieb sie zu Hause, sie hatte Aufsätze zu korrigieren. Abends brachte sie mir die Hefte. – Lies, sagte sie. Die Musterklasse der Schule.
    An die Aufsätze kann ich mich genau erinnern, sogar an das Thema. Es war eines der Pflichtthemen jener Jahre: Bin ich zu jung, meinen Beitrag für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu leisten? Ich las die Aufsätze, alle vierundzwanzig. Ja, sagte ich dann, alle zehn Jahre beginnt wohl eine neue Generation.
    Was soll ich machen? sagte Christa T. Ich müßte ihnen doch allen eine Vier geben. Aber es ist eine Wettbewerbsarbeit, unsere Schule schneidet dann schlecht ab im Punktvergleich. Die halten mich ja glatt

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