Nachdenken ueber Christa T.
Gedanke dazu ist aber: Man kann nicht jeden neuen Fall von vorne behandeln.
Der Anflug von Routine entgeht Christa T. nicht, aber wer würde bestreiten, daß richtig sein kann, was mit Routine vorgebracht wird? Sie stimmt also zu, daß man in jedem Augenblick, wenn es auch schwerfalle, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden müsse. Er liest hinter ihrer Stirn: Wie oft man mir das schon gesagt hat!, denn er hat nicht verlernt, in den Blicken von Leuten zu lesen, das hat ihm mal das Leben gerettet, und immer noch liebt er das Gefühl, wenn er sein Gegenüber durchschaut.
Wenn du erst wüßtest, denkt er, wie oft man es mir sagt. Dann muß er lächeln, als er merkt, daß seit einiger Zeit niemand mehr nötig hat, es ihm zu sagen: Er sagt es sich selbst. Oft.
Aber so kommen wir nicht weiter. Will ich denn weiterkommen? Da stutzt der Mann. – Ich habe keine gute Nacht gehabt, wer fragt schon danach? Ich selber nicht, das wäre das letzte. Er hat sich wieder in der Hand.
Ihr wollt alles auf einmal haben, sagt er, nachdenkend. Macht und Güte und ich weiß nicht, was noch.
Da hat er ja recht, denkt sie erstaunt. Ihr war nicht eingefallen, daß man das nicht alles sollte haben wollen. Plötzlich begreift sie: Das ist sein Fall. Er hat sich erzogen,nur so viel zu wollen, wie er erreichen kann, mit äußerster Kraft. Sonst lebte er gar nicht mehr, oder er säße nicht hier. Dazu war nichts zu sagen. Aber was man so leichtfertig hinsagt: Wie man denkt, soll man auch handeln, oder: Das Leben aus einem Guß, oder: Keine Kompromisse; die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ... Das alles lag hinter ihm.
Komisch ist, sagt er in ihre Gedanken hinein, daß das Leben immer weitergeht, banaler könnte Ihnen wohl kein Satz vorkommen. Aber daß dies zuzeiten das wichtigste sein kann ...
Da sind sich einmal, in der Mitte des Gesprächs, ihre Gedanken begegnet, damit wollen wir es genug sein lassen. Mehr ist bei dem Stand der Dinge nicht zu erreichen. Er weiß zuviel, aber nicht genug, doch hat er Ahnungen. Die freilich werden von der Wirklichkeit übertroffen werden; daß durch neue Gewißheiten seine Nächte leichter würden, kann er nicht mehr hoffen. So weiß er nicht: Wartet er auf die Gewißheit, oder fürchtet er sie?
In jedem Fall hat er zu schweigen. Die Junge da, ach, mit ihren Aufsätzen!
Als sie hinausgeht, Christa T., nicht weiß, was sie denken soll: Was hat er ihr denn überhaupt gesagt? Gar nichts, genaugenommen. Doch, etwas noch, einen merkwürdigen Satz am Schluß. So viel ist sicher, hat er gesagt, vergessen Sie das niemals: Was durch uns in die Welt gebracht ist, kann nie mehr aus ihr hinausgedrängt werden.
Diesen Satz wird sie vorerst vergessen, er kommt später wieder hoch, zu seiner Zeit. Jetzt, wenn sie nach Hause fährt, überwiegt ein neues Gefühl, eigenartig genug. Sieist auf einmal froh, daß sie Wünsche hat, die über sie hinausgehen. Und über die Zeit, die ich erleben werde, sagt sie sich zum erstenmal. Dem Mann da, ihrem Direktor, ist sie dankbar, anders als sie dem Bild dankbar war, das sie sich von ihm gemacht hat. Sie dankt ihm ihre Wünsche. Er hat sie für sie mit bezahlt.
So kann es gewesen sein, aber ich bestehe nicht darauf. Wir haben uns ja die verschiedensten Bilder gemacht, manche sind zäh, man will kein anderes mehr. Vielleicht war der Mann, ihr Direktor, nicht so, aber er könnte so gewesen sein. Fragen kann man ihn nicht, er ist tot. Aber wie sollte man ihn fragen, selbst wenn er lebte? Wie soll man wissen, welches Bild er von sich selbst hätte und preisgeben würde? Zehn Jahre später. Er würde nicht bereit sein, in den Schacht zurückzuklettern. Denn er müßte haushalten mit seiner Kraft, die ihm geblieben ist.
Auffällig ist, daß nicht notwendig sie es war, Christa T., die da vor dem Mann gesessen hat. In dieser Szene ist sie austauschbar gegen eine Menge Personen ihres Alters. Gegen eine Menge, nicht gegen alle. Die Zeit, sich zu unterscheiden, rückte allmählich heran, aber wir ahnten es nicht. Bis sie uns über den Hals kam.
Was jetzt folgt, konnte so wieder nur ihr passieren. Die Krötengeschichte. Ich wußte nicht, daß sie ihr so nahegegangen war. Eigentlich hatte sie wenig darüber gesagt, ein paar Sätze. Stell dir vor, neulich hat doch ein Junge aus meiner Klasse in meiner Gegenwart einer Kröte den Kopf abgebissen. – Pfui Teufel, werde ich gesagt haben – ach, jetzt erinnere ich mich: Wir entwarfen zum Spaß noch einen Brief an unseren alten
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