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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Sommerglut über gelbgrünen Feldern, stumpfe Ruhe in halbleeren Abteilen. In Kreuz war eine flüchtige Paßkontrolle, kaum geeignet, meine von der Mutter hartnäckig bekämpfte Illusion aufrechtzuerhalten, ich führe ins Ausland.
    Ich wußte aus meinem Brockhaus, Jahrgang 1889 – mein Großvater hatte ihn mir vermacht, und er bildete den Hauptbestandteil meiner Bibliothek –, daß Kalisch ein Gouvernement im westlichen Teil von Russisch-Polen sei: »Das Land ist eine flache, nach Westen zu sich senkende Niederung mit geringen Erhebungen. Das Klima ist gemäßigt und gesund. Die Bevölkerung besteht aus 80% Polen (meist römisch-katholisch), 10% Deutschen (meist evangelisch), 9% Juden, der Rest sind Russen und andere. Der Boden ist sandig. Bedeutend ist die Schafzucht und die Zucht von Gänsen, die nach Deutschland ausgeführt werden. Das Gouvernement zerfällt in acht Kreise: Kalisch, Wjelun, Kolo, Konin ...« und so weiter.
    Das alles trug ich meiner Mutter vor. Wie mächtig ausländisch das doch klinge! Aber sie wollte mir keineAuslandsreise gönnen. Das ist jetzt deutsch, punktum. Allenfalls interessierte sie noch, daß »Kalisch, poln. Kalisz, in einem schönen Tal an drei Armen der Prosna« gelegen sei und »sechs Jahrmärkte« habe. Dann ist es da also doch nicht so öde, meinte sie zufrieden.
    Um Mitternacht kamen wir in Kalisch an.
    Jetzt müßte man wissen, warum sie nicht weiterschrieb. Was es mit dieser polnischen Himbeere Malina auf sich gehabt hat, für die sie doch den ganzen Zauber aufgebaut hat, den Brockhaus aus dem Jahre 1889, die Auslandsfahrt, die doch keine sein sollte, die Mutter und sich selbst in Rede und Gegenrede ... Ihr habt gefragt, was ich vorzuweisen hätte. Nun denn: den Ton dieser Seiten, als Beispiel. Sie redet, daß man sie sieht.
    Weiter nichts.
    Dann muß sie wohl abgerufen worden sein. Besuch war nämlich da. Besuch, für mich?
    Da war es der Schulleiter aus dem Nachbardorf, das fand sie freundlich von ihm. Wenn sie auch nicht wußte, wie sie das deuten sollte, was, außer gutnachbarlicher Freundlichkeit, noch in seinem Blick war. Eine Art Signal, auf Wiedererkennen berechnet, aber das Echo in ihr blieb aus.
    Die Mutter schickte sie in die Jasminlaube und brachte Apfelmost, später geht auch der Mond auf. Zuerst ist noch etwas Gezwungenes in seiner Rede, sie kann nicht darauf kommen, wieso. Er hat gehört, sie sei krank oder etwas dergleichen, da hat er doch mal nachsehen müssen. Er hat schöne braune Augen zum Nachsehen, muß sie denken, wohltuend ist ihr auch sein offenes und heiteres Wesen, wo ist man ihm schon einmal begegnet? Dazu ein kluger Verstand, ein sicheres Urteil, eine tätigesympathische Haltung zum Leben. Bei ihm möchte man zur Schule gehn. Gleich bestätigt er ihre Gedanken und fängt an, von seinen Schülern zu erzählen, sie kennt ja manche noch, nun wird sie aufmerksam, fragt, erklärt, widerspricht, wundert sich. Ja, sagt er einmal, auch wieder mit diesem bedeutsamen Unterton, alle sind wir vier Jahre älter geworden.
    Zustimmend lacht sie. Das Geistreichste ist es gerade nicht, aber falsch ist es auch nicht.
    Dann kommt noch der Vater dazu, nach langer Zeit hat er wieder einen leichten Tag gehabt, ohne diese Schmerzen, fast ohne Luftknappheit, er kann sich wohl zutraun, in eine Decke gewickelt bei ihnen zu sitzen. Von den Schulgeschichten angeregt, kommt er auf seine eigene Schulzeit, auf seine Jahre im Lehrerseminar, seine Ausbruchsversuche und wie er endlich lernte sich bescheiden. Wie anders! denkt Christa T., und zugleich: Welche Parallelen! Der Vater wird nicht oft mehr so zu ihr sprechen, sie weiß es, und er weiß es auch. Er versteht sich gut mit seinem jungen Kollegen aus dem Nachbardorf, sie fangen an zu fachsimpeln, und auf einmal hört Christa T. den Jungen sagen: Da bin ich aber vollständig Ihrer Meinung!
    Vollständig! Das gibt ihr endlich den Ruck, den sie gleich hätte spüren sollen, das erklärt ihr auch seine bedeutsamen Blicke und den Doppelsinn in seinen Antworten. Nun sieht sie auch, daß er immer noch die gleiche graue Reißverschlußjacke trägt. Die ist gut, die ist dauerhafter als ein kleines Gefühl.
    Und doch: Mein Gott, wie kann man so etwas vergessen?
    Es ist ihr lieb und unlieb.
    Als sie nachts noch darüber nachdenken will – was alles geschieht, was alles man vergessen kann, Liebes und Unliebes vollständig vergessen –, da löst sich auf einmal die ganze Trauer und Verzweiflung der letzten Zeit tröstlich auf. Na dann,

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