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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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denkt sie erstaunt: Na dann!
    Sie schläft zum erstenmal wieder schnell ein, sie erwacht nicht zu früh und ganz frisch, weiß auch noch, was sie geträumt hat. Sie stand nämlich am Zaun wie damals, der Schulleiter vom Nachbardorf kam angefahren, er trug seine graue Jacke, und sie steckte ihm alle Taschen voll Kirschen, nur daß sie noch grün waren, aber das schien sie beide nicht zu stören. Da war nicht mehr er es, sondern Kostja, ihm gab sie Kirschen mit vollen Händen, da sank ganz schnell die Dämmerung, es wurde Nacht, der Mond stand am Himmel. Da sah der Mann sie an – denn es war Kostja nicht mehr, sondern ein Fremder, und er sagte freundlich: Siehst du, so geht es immer.
    Diesen Satz wiederholte sie sich den ganzen Tag über und mußte jedesmal lachen. So geht es immer, so geht es immer – was ist so Tröstliches daran? – Wer der Fremde war, wollte sie gar nicht wissen.
    Mittags kam die Schwester mit dem Rad, da fiel ihr ein: Die Sommerferien hatten angefangen. Sie fuhren zusammen zu den Wiesen am Deich, lagen im Gras und redeten über alles, worüber sich reden läßt. Das andere, Malina, die Himbeere – es hatte nun auch angefangen, insgeheim. Wie oft noch bestritten, wie oft tief bezweifelt!
    Wurde auch nicht zu Ende geführt.

11
    Ich kann nur sagen: Sie hat es mitgenommen.
    Denn ihr Weg dorthin war nicht frei von Gegenkräften, daher langwierig wie viele Wege unserer Generation. Aber ein Weg war es immerhin, eine Richtung war eingeschlagen, was kommen soll, hat sich angekündigt, hat, nach langer Mühe, sogar zu erkennen gegeben, von welcher Art es sein müsse; seine Wirklichkeit, seine Mühe läßt sich, unbestreitbar wie die Spannung, am Ausschlag des Zeigers ablesen, an der Stärke ihrer Unruhe.
    Nun soll sie also den Mut zu sich selber festigen, der Sommer ist noch nicht zu Ende. Nur daß jetzt nicht mehr wahllos vorgegangen wird. Nicht, was ihr in die Hände fällt, sie selbst ist es wieder, die zugreift, nach offenem, nach geheimem Plan. Das neunzehnte Jahrhundert ist mir literarisch sehr ansehenswert . Sie liest Raabe, Keller, Storm, hält sich ans Nüchterne, steigt, nicht ohne zu wissen, was sie tut, hinab in die kleine Welt. Sichere, scharf abgegrenzte Vorgänge, überschaubar bis in die Verästelung der Gefühle, die doch immer einfach bleiben. Ihre andere Liebe, die bis zum Laster geht: die Kompliziertheit, Vieldeutigkeit, Verfeinerung, die Endzeitgefühle: Thomas Mann – das bleibt jetzt in der zweiten Reihe. Was sie selbst notiert – Geschichten, die sie sich hat erzählen lassen, Lebensläufe, Überliefertes und Kontrollierbares, als mißtraue sie tief der Phantasie, als lägen in ihr die Möglichkeiten zur Verirrung. Feste, klare Umrisse, nichts in Gefühl aufgelöst, nichts in Gedankenspiel gebrochen. Hart schreiben , fordert siesich selber auf, trockener Humor, scharfer Blick, zwischen echtem Gefühl und Sentimentalität unterscheiden, vor Verfälschungen hüten! Genauigkeit! Einmal entziffere ich am Rand eines abgebrochenen Manuskripts: Gottfried Keller! Man muß Geschichten immer wieder lesen können .
    Nie hätte sie zu schreiben gewagt: Meine Geschichten. Da fragt man sich doch, ob es nicht nützlich sein kann, sich etwas länger zu täuschen. Bis zu dem Augenblick wenigstens, da das Mißverhältnis zwischen den Anforderungen, denen man sich stellt, und den eigenen Kräften nicht mehr derart erdrückend ist. Die Enttäuschung allmählich steigern, so daß man nicht durch den ersten ungemilderten Ansturm von dem, was man Einsicht nennt, zu Boden geworfen wird.
    Nun will sie jedenfalls erfahren, womit sie es eigentlich zu tun haben wird. Aus keinem anderen Grund geht sie, als das neue Studienjahr begonnen hat und sie in die Stadt zurückgekehrt ist – wie fern die Niederlagen, die sie weggetrieben haben, wie komisch und unangemessen die vorsichtig-teilnahmsvolle Miene der Dame Schmidt! –, sie geht also vor allen anderen, so, als könnte man ihr etwas wegschnappen, zu ihrem Professor und versichert sich ihres Themas für die Examensarbeit: Der Erzähler Theodor Storm.
    Auf meine Bitte hat das Institut mir die Arbeit geschickt, zuvorkommend angedeutet, daß man sie nicht sogleich zurückerwartet. Ich weiß schon: Sie steht – graumelierte Klemmappe, grüner Lederrücken – unter der Registriernummer 1954/423 in einer Reihe mit den Hunderten von Examensarbeiten, die die Jahrzehnte hier abgelagert haben, und niemand als der trockene Staubdieser Institute kümmert sich um

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