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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ihnen lag, eher eines der dürftigen Stücke, nur daß es unter der Beleuchtung dieses Tages sich verschönte –, auf einmal merkten sie beide, daß sie hier nicht mehr wegwollten. Sie sagten es nicht, aber wußten doch, daß sie es eben gedacht hatten.
    Ich denke mir, daß sie in jenen Tagen mit ihren Häuserskizzen begonnen hat, ein Spiel, nichts weiter. Ein Spiel von der Art, die Macht über uns bekommen kann.
    Mutter, sagt Anna, als sie erwacht ist, jetzt gucken wir uns an wie zwei Fremde! – Schon? denkt Christa T., will es noch nicht wahrhaben, zieht das Kind an sich, komm, hab mich lieb, erstickt wie jede Mutter seine Fremdheit in der Umarmung, aber die Illusion, daß sie einen Teil von sich selbst im Arm halte, verbietet sich. Sie läßt das Kind frei, sie läßt sich mustern. Dann gehen sie hinaus, über die Felder, der Weg ist hart und furchig, es ist Sommer. Sie rasten auf einem Platz mit kurzem Gras, der von einer niedrigen Feldsteinmauer umgeben ist. Anna erklettert eine Hungerharke und betätigt den Heber, Christa T. sieht sie da oben sitzen, mit baumelnden Beinen, vor einem blauen und grünen Hintergrund, leuchtend und düster. Sie müssen dann laufen, eine Wolkenwand zieht herauf, sie schaffen es nicht. Der Regen fällt gleich mit großer Wucht, nach zehn Schritten sind sie durch und durch naß. Sie reiben sich gegenseitig die Haare trocken, sie setzen sich zusammen auf den großen Sessel und trinken heißen Kakao, es ist noch dunkler geworden, Hagelkörner sind unter den Regen gemischt.Mutter, sagt Anna, jetzt erzähl ich dir was. An und für sich ist Lügen schön, nicht?
    Am Abend reißt Christa T. ein Blatt aus ihrem Haushaltsbuch. Wind und Sonne , schreibt sie. Im Rücken die öde, rotgraue Dächerreihe des Städtchens. Die Kleingärten mit den Grabenden und Säenden, wie sie sich auf den schmalen Steigen im frisch Geharkten aneinander vorbeiquetschen: Da sollen Bohnen hin, da Gurken, hier will Tante ihre Mohrrüben haben. Sorgfältig wird der Schlüssel im Vorhängeschloß an der Lattenpforte umgedreht . Dagegen der freie trockene Feldweg, die niedrige Mauer, Klein-Anna auf der Hungerharke. Farben: rot, blau, grün, und man liest: Sehnsucht. Es gelingt ihr, aus drei Farben Sehnsucht zu machen. Das Kind auf der Hungerharke werde ich immer sehen, auch wenn es für sie nur ein Vorwand war oder gerade deshalb: Es ist durchsichtig und doch fest, genau, ohne kleinlich zu sein. Wenn sie Dauer angestrebt hat, wollte sie doch auch spüren lassen, daß Dauer vergänglich ist. Die Geschichte von dem Lappen, die Klein-Anna ihr erzählt. Ein gelber Lappen mit rotem Rand, der eine Mutter hatte wie jedermann, aber ihr Herz schlug auf einmal nicht mehr so sehr, da war sie tot. Da muß der Lappen die Mutter eingraben und muß nun alles alleine machen, sogar kochen. Dabei verbrennt er sich natürlich die Finger, dann kann er sich alleine nicht mal ein Lätzchen umbinden, kann sich nicht an den Tisch setzen, findet auch kein Bonbon in der Kammer – rein nichts kann er. Da flog er zum Fenster raus. Der Mond schien, die Eule stand schon am Himmel. Eine Katze ging da lang, die hatte in jeder Hand einen Eierbecher wie die Katzen in Berlin. Die Eule flog an dieLampe, der Lappen hinter ihr her, doch da kam noch ein Aschenbecher angeflogen, auf dem stand in weißer Schrift: Das ist ein böser Aschenbecher. Da bekam der Lappen Angst und flog zur Mutter. Da fing ihr Herz wieder zu schlagen an, sie gingen zusammen nach Hause, und die Mutter hat aufgepaßt, daß keine Bösen mehr kamen ...
    Nichts dazugetan, schreibt Christa T., wörtlich niedergeschrieben. Sollten alle Kinder Dichter sein?
    Immer ist da ein Zwang, den Stift wegzulegen. Musik hören, ganz alte oder die neueste. Den gefährlichen Wunsch nach reiner, schrecklicher Vollkommenheit in sich nähren. Ganz oder gar nicht sagen und unmißverständlich in sich das Echo hören: gar nicht. Das Fach zuschlagen, in dem die Zettel sich häufen. Halbheiten, Stümpereien, dabei bleibt es. Vertane Zeit. Sie ist, früh am Abend, schon wieder müde. Im letzten Jahr muß diese Müdigkeit, über die wir uns manchmal aufhielten, in heftige Todesmüdigkeit übergegangen sein, gegen die hat sie sich wild aufgelehnt. Die Krankheit näherte sich als Müdigkeit, verführerisch. Christa T. muß den Verdacht gehabt haben, das sei eine Falle, die sie sich selber stellte, und sie beschloß, nicht hineinzutappen. Wie immer ist sie aufgestanden, wenn die Platte abgelaufen ist, hat sich

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