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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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einfach vor gegen die Grenze, die ihr, Christa T., gesetzt ist: Da ist ihre Zeit aufgebraucht, und nur unsere ist noch übrig.
    Vergessen wir, was wir wissen, damit unser Blick sich nicht trübt. Gehen wir in die Jahre, wie sie selbst hineingegangen ist: in den großen, den unendlichen Zeitraum. Nicht wie in eine Falle, deren Bügel gespannt wird, jeden Tag um einen Millimeter mehr.
    Sondern wie in das Leben.
    Die Verwunderung darüber, daß sie war, wo sie war, diekennen wir schon an ihr. In den letzten Jahren nimmt sie zu, bis zum Unglauben. Daß alles so sein kann, wie man es sich vorgestellt hat – denn eine Schwärmerin ist sie ja nicht –, das war doch über alle Vorstellung. Daß nichts Merkwürdiges dazwischenkam, schien über die Maßen merkwürdig. Und ihr Gefühl sagte ihr, wie gefährlich Gefahrlosigkeit sein kann. Die Ungefährlichkeit der Zahnarztfrau, die sie eben, die Kaffeetasse in der Hand, lange verloren angestarrt haben muß. Nun steht sie auf, verabschiedet sich, geht, mit etwas steifem Rücken, oder irrt man sich da? Vom Platz aus sieht sie noch einmal zum Fenster hoch, an dem Christa T. steht, lächelnd, wie man hier nicht lächeln soll. Die Zahnarztfrau und die Schulleitersfrau werden ihren Männern nicht erklären können, warum die neue Tierarztfrau kein Umgang für sie ist, das nimmt ihnen auch keiner übel, da man ja ein Lächeln nicht beschreiben kann. Es muß hier genügen, zu erwähnen, daß die Frau des Zahnarztes mehr als einen Tag damit zu tun hat, ihr ordentliches Leben wieder gegen dieses Lächeln aufzubauen, sich selbst zu bestätigen, daß sie eine achtbare Hausfrau und Gattin ist und ihren Platz in der sittlichen Rangordnung der Welt hat – nicht den letzten Platz übrigens. Sie sagt nichts Böses über Christa T., ist überhaupt eine gutartige Frau, auch unfähig, einen genauen Ausdruck für ihre Gefühle zu finden. Sonst hätte sie Christa T. wohl »ein bißchen unernst« genannt. Vor sich selbst kommt sie, wenn sie an einen bestimmten Blick denkt, den Christa T. an sich haben kann, sogar auf »unheimlich«.
    Wie eben manchen Menschen Staunen unheimlich ist. Man soll sich nicht, besonders nicht, wenn man Gästehat, in seiner eigenen Wohnung umsehen, als wäre sie einem todfremd, als könnten die Möbel jeden Augenblick Beine kriegen und die Wände Löcher.
    Immerhin, die Zahnarztfrau, die Schulleitersfrau können einfach wegbleiben, können üble Nachrede treiben oder großmütig sein und schweigen. Wir können nicht wegbleiben, wenn es heikel wird, und Nachrede müssen wir treiben. Dafür gibt es nun, wie fast immer, mehrere Möglichkeiten, mag der Rahmen auch fest sein und wenig dehnbar. Zuerst wären da die Zeugnisse, unser spärlicher Briefwechsel aus jenen Jahren. Zweitens: abgerissene Zettel mit Notizen über ihre Kinder. Denn als Anna drei Jahre alt war, wurde Lena geboren, in allem das Gegenteil der Schwester: dunkel und zart und empfindlich. Wenn ich immer die Unordnung und Flüchtigkeit ihrer Hinterlassenschaft beklagt habe – was soll ich jetzt zu diesem Packen Zettel sagen? Als wäre in Jahren niemals ein Heft in Reichweite gewesen, kein Block wenigstens, immer nur Briefumschläge, die Rückseite von Rechnungen, Mahnungen – Zettelabfälle vom Schreibtisch ihres Mannes.
    Die dritte Möglichkeit, sich jenen Jahren zu nähern, wäre die einfache Erinnerung. Es scheint leicht, sich noch einmal vorzustellen, wie sie, Christa T., die Treppe hochkommt, ein in Decken verschnürtes Bündel auf dem Arm – Anna –, wie sie uns schon von der Treppe aus zuruft, sie sei entsetzlich müde, und wie wir dann doch bis tief in die Nacht hinein dasitzen, auch wenn wir nur noch denken können, daß wir die Zeit nützen müssen. Dies wäre das Bild, das ich sehe.
    Alles deutet auf Übergang. Wie es ist, bleibt es nicht. Die Zeichen, die man gibt, sind vorläufig, wenn manes weiß, ist es gut. Ihre Briefe, flüchtig und selten, überholt, vergangen, und nie wirklich ernst genommen der leise Ton von Unterlegenheit, der sich einschleicht. Diese Notizen – nichts als Versprechen an sich selbst, Widerhall einer Gewohnheit, von der sie nicht mehr lassen kann. Unsere kurzen Begegnungen – Vorgaben, nichts als Vorgaben auf die Zeit, die man einmal haben wird, um sich wirklich zu treffen.
    Die festen Bilder stellen sich nicht mehr ein. Wir nähern uns dem Unschärfebereich der Gegenwart. Was man nicht deutlich sieht, hört man vielleicht.
    Ich hörte sie sagen: Wir sehen uns

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