Nachdenken ueber Christa T.
kommt wegen der Schweine. Mit der Kaffeekanne will ich in der Tür stehen, und Worte wie »Rinderbrucellose« und »Verkalben« und »Tbc-freie Ställe« will ich ohne weiteres verstehen, und eine Sekunde lang will ich jeden Morgen über mich selbst verwundert sein, weil ich diese Wörter eben gehört habe, wie ich sie in zwanzig Jahren hören werde: ohne Verwunderung. Ja, will ich dann sagen, die Spritzen sind ausgekocht,und die Assistentin für die Schweineimpfungen soll übermorgen kommen. Aber nein, ich rühre mich nicht vom Telefon weg. Machst du dir wirklich Gedanken wegen Ulrichs Schweinen?
Dann will ich mit hinuntergehen in den Hof. Will mich ins Auto setzen, während Justus den Motor warmlaufen läßt, während es draußen langsam hell wird, aber hier drinnen ist es noch dunkel, und wir sind allein. Justus bekommt schon das aufmerksame Gesicht, das ich am meisten an ihm liebe, so daß ich leise sage: Noch eine Minute! und er lächelt und die Minute zugibt. Dann will ich ihn losfahren sehen, will langsam nach oben gehen und den Tag über alles tun, was getan werden muß, eins nach dem anderen, so daß meine Arbeit den Tag voranschiebt, so kommt es mir manchmal vor.
Aber er hat ein Gewicht, gegen das meine beiden Hände auf die Dauer nicht ausreichen.
16
Ich frage Justus: So hat sie gefürchtet, nicht auszureichen?
Justus sagt: Ja. Und nach einer Weile: Nein.
Mehr sagt er nicht, und es ist auch schwer zu erklären, in welchem Sinn Christa T. sich immer für unzureichend, in welchem anderen dagegen sie sich für zureichend hielt, vielleicht sogar für überlegen. Manchmal denke ich, sie hat uns alle und sich selbst irregeführt mit ihren Klagen über ihre Unzulänglichkeit. Zum Beispiel der Schwebezustand, in dem sie ihren Haushalt zu halten wußte, kommt mir zu kompliziert vor, um zufälligzu sein. Wie da eine Schwäche die andere ausglich, wie aus zwei Versäumnissen eine überraschende Improvisation wurde, wie man immer im Glauben blieb, man dürfe nichts anrühren, damit das Ganze nicht zusammenbrach, sie selbst aber, wenn es darauf ankam, fest zugriff – das alles zusammen hätte man raffiniert nennen können, wenn da nicht noch ihre verräterische Müdigkeit gewesen wäre. In den letzten Jahren ... Da steht es, ich werde es nicht zurücknehmen, wie vorher schon manchmal; denn es sind die letzten Jahre – in den letzten Jahren haben wir sie nie anders als müde gesehen. Heute kann man ja fragen, was diese Müdigkeit verriet, damals unterblieb die Frage wegen Sinnlosigkeit. Die Antwort hätte weder ihr noch uns genützt. Soviel ist sicher: Niemals kann man durch das, was man tut, so müde werden wie durch das, was man nicht tut oder nicht tun kann. Das war ihr Fall. Das war ihre Schwäche und ihre geheime Überlegenheit.
Hatte sie sich verändert? fragte ich Justus.
Du meinst ... Ja, sagt er. Du hättest sie nicht erkannt. Und hat sie gewußt ...
Ich weiß nicht, sagt er. Wir sprachen ja nicht mehr darüber. Aber merkwürdig ist doch, daß sie nicht mehr nach den Kindern fragte. Mit keinem Wort. Kannst du dir das vorstellen?
Die beiden Briefe habe ich gesehen, sie liegen neben mir. Blaue Umschläge mit Zellophanfensterchen, ihre letzten Briefe an die beiden älteren Kinder, die aber beide noch nicht lesen konnten. Sie hat blaue Fische und gelbe Blumen aus Buntpapier ausgeschnitten und wie eine Zierleiste über die weißen Bögen geklebt, sie hat große, deutliche Buchstaben gemalt, hat von Frühling und Sommergeschrieben, denn es war ja tiefer Winter, als sie krank wurde, Frost und Eis, als sie starb. Wie gerne würde ich jetzt mit euch auf dem See schlittern! Von Radieschensäen und Blumenpflanzen ist die Rede, vom Schwimmenlernen im See. Die Umschläge, in die ich die Blätter zurückstecke, sind an den Rändern schon vergilbt und brüchig. Ich werde die Briefe zurückgeben, vielleicht wollen die Kinder sie jetzt lesen.
Sie fragte nicht mehr nach ihnen, sagst du? frage ich Justus.
Kein Wort, sagt er. Zwei, drei Wochen lang kein Wort, bis zum Ende.
Du meinst, sage ich, sie schwieg, um nicht schwach zu werden.
Aber sie war schwach. Sie wollte ihre Schwäche vor mir verbergen.
Das ist es gerade, was ich Stärke nenne.
So schiebe ich sie jetzt schon vor mir her, ihre Schwäche, ihre Stärke, so gewöhnen wir uns langsam an ihren Tod. Ein Damm gegen die Zeit, die mir feindselig vorkommt, aber sie ist nur gleichgültig. Sie hat gar nicht nötig, irgend etwas zu tun, die rückt heran, geht
Weitere Kostenlose Bücher