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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nicht.
    Ich höre, daß sie sich quält. Der Beweis für das, was sie gewesen ist – hier wäre er. Sinnsüchtig, deutungssüchtig: Wir sehen uns nicht.
    Aber was liegt daran?
    Sie beharrte darauf. Wir müssen wissen, was mit uns geschehen ist, sagte sie. Man muß wissen, was mit einem geschieht.
    Warum denn? Und wenn es uns lähmen würde?
    Sie hielt dafür: taub und blind könne man nicht handeln, es sei denn taub und blind. Sie war für die Klarheit und das Bewußtsein, aber sie meinte nicht, was viele dachten: dazu gehöre nichts als ein bißchen Mut, nichts als die Oberfläche der Geschehnisse, die man leicht Wahrheit nennt, nichts als ein bißchen Gerede von Vorangekommensein.
    Frieden war plötzlich ein Wort, das gelten sollte, Vernunft, dachten wir, Wissenschaft: das wissenschaftliche Zeitalter. Da traten wir nachts auf den Balkon, um für Minuten eine Spur der neuen Sterne den Horizont entlangziehen zu sehen. Die Entdeckung, daß die Welt, auseisernen Definitionen entlassen, sich unserem Zugriff wieder öffnete, uns nötig zu haben schien mit unseren Unvollkommenheiten, zu denen man sich, da sie uns nicht in den Abgrund zu reißen drohen, auch leichter bekennt ...
    Sie hat geglaubt, daß man an seiner Vergangenheit arbeiten muß wie an seiner Zukunft, das lese ich in den Notizen, die sie sich über Bücher machte. Eine Redaktion hatte sie gebeten, darüber zu schreiben, sie ist, wegen der krankhaft und gewaltsam zunehmenden Müdigkeit, über diese Notizen nicht mehr hinausgekommen, und ich bin nicht sicher, daß sie die Maßstäbe durchgesetzt hätte, die sie da, ohne mit der Wimper zu zucken, hinstellt. Nicht daß sie Vollkommenheit erwartet hätte, aber sie will alles neu und frisch haben, nichts soll blaß und zufällig und banal sein wie in Wirklichkeit, etwas anderes soll dastehen, nicht immer nur wieder das längst Gesehene und überall Verkündete. Originalität, notiert sie sich, und dazu: verschenkt, aus Feigheit. Vielleicht darf man im Leben Abstriche machen, schrieb sie. Nicht hier.
    Die glückliche, allen Anfängen günstige Zeit früher Unbefangenheit war vertan, wir wußten es. Wir schütteten den letzten Wein in den Apfelbaum. Der neue Stern hatte sich nicht gezeigt. Wir froren und gingen ins Zimmer, das Mondlicht fiel herein. Ihr Kind schlief, sie trat an sein Bett und sah es lange an. Alles kann man nicht haben, das weiß man, aber wem nützt das schon?
    Vielleicht kann man im Leben Abstriche machen ... Aber wenn sie allein war, in der Wohnungstür stand, den langen Gang hinuntersah, die Stille sie packen wollte, sagte sie laut: Nein.
    Sie fuhr, sooft sie konnte, mit ihrem Mann über Land. Ihre alte Gier auf Gesichter, wie sie wirklich aussehen, wenn sie eine schlimme oder gute Nachricht empfangen, wenn sie sich anspannen, sich entschließen, zweifeln, schwanken, begreifen, sich überwinden. Sie vergißt sich selbst vor den aufgewühlten Gesichtern der Bauern. Justus muß in die Stuben eintreten. Was meint der Doktor, aber ehrlich, zu den Genossenschaften? Justus hat Tabellen bei sich: Erzeugung von Milch, Schweinefleisch, Getreide. Die Weltspitze im Vergleich zu ihrem Kreis. Christa T. sah: Mehr war noch niemals von ihnen verlangt worden, ein unerhörter Schritt über die Grenze, die ihnen gesetzt schien. Sie wagte, sehr behutsam, hin und wieder ein Wort, meist zu den Frauen, mit denen sie in der Küche stand, die Klein-Anna mit Milch fütterten und nebenher ihr altes Lamento anstimmten, die gewöhnliche Klage über ihr Leben, heftig mit Anklagen durchsetzt, und selten eine schnelle Frage, mit sicherndem Blick zur Stubentür: Wer wird schon an uns denken, ach, das glaub ich doch nicht, das hat es noch nicht gegeben, es wär das Neueste ...
    Es gibt welche, sagte Christa T., die auf das Neueste neugierig sind, das soll man ausnutzen. Wenn sie zurückfuhren, die Arbeit war getan, hielten sie an, wo sie es bestimmte. Sie stiegen auf einen Hügel und sahen sich um, oder sie gingen in eine alte Kirche, oder sie ließ sich von Justus die wirtschaftliche Lage der Dörfer erklären und Geschichten von den Bauern erzählen, von denen sie kamen. Wahrscheinlich dachte sie, er täte ihr einen Gefallen, und fürchtete sogar, ihn zu ermüden. Aber er hätte niemals so schnell und gründlich seinen Bereich kennengelernt ohne ihre Fragen. Einmal,da war es schon Mai geworden, und man konnte in einem warmen Sonnenfleck auf der Straßenböschung sitzen – es war gerade nicht die schönste Ecke, die da vor

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