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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gewesen. Sie lebt, und der ist vielleicht gestorben, als sie schlief. Den muß sie nun auch noch mitnehmen. Wer würde fragen, ob das Gepäck zu schwer wird mit der Zeit? Merkwürdig, wie er nach Jahren wieder da ist, beim Anblick einer vermoderten Gasmaske in einem friedlichen Wald, auf einem Weg allerdings, der sie mit der dunkleren Hälfte der Welt, der sie immer entrinnen wollte, wieder in Berührung bringen soll ...
    Davon wird berichtet werden zu seiner Zeit. Behutsam, wenn möglich, da Tote verletzbar sind, das leuchtet ein. Was ein Lebender berichten kann, indem er lebt, würde einen Toten endgültig töten: Leichtfertigkeit. Darum kann man sich, leider, an die Tatsachen nicht klammern, die mit zuviel Zufall gemischt sind und wenig besagen. Aber es wird auch schon schwerer, auseinanderzuhalten: was man mit Sicherheit weiß und seit wann;was sie selbst, was andere einem enthüllten; was ihre Hinterlassenschaft hinzufügt, was auch sie verbirgt; was man erfinden muß, um der Wahrheit willen: jener Gestalt, die mir manchmal schon erscheint und der ich mich mit Vorsicht nähere.
    Da überlagern sich schon die Wege, die wir wirklich gegangen sind, mit ungegangenen. Da höre ich schon Worte, die wir nie gesprochen haben. Schon sehe ich sie, Christa T., wenn sie ohne Zeugen war. Wäre es möglich? – Die Jahre, die wieder aufsteigen, sind dieselben Jahre nicht mehr. Licht und Schatten fallen noch einmal auf unser Gesicht, das aber gefaßt bleibt. Das sollte uns nicht erstaunen?

3
    Sogar auf Wunder gefaßt zu sein, hatten wir verlernt. Wir hofften im Gegenteil auf den Beistand der Zufälle. Wer hätte in seiner großen Verwirrung sich ein Herz gefaßt und »so und nicht anders« gesagt? Manchmal, in einer längst bekannten Umgebung, konnten wir noch den Kopf heben, plötzlich um uns blicken: Hierher also hat es mich verschlagen ...
    An der Tafel im großen Hörsaal stand eine Verszeile, metrisch gegliedert: »fflns hât der wínter geschµdet überµl.« Kein Menetekel, nicht die Spur eines Zeichens; auch in mir sprach nichts. Ich hörte dem Redner zu, der ein blaues Hemd anhatte, rothaarig und sommersprossig war und großen Eifer für den Kinderspielplatz an den Tag legte, den unsere Fakultät bauen sollte. Nein, nichts durchfuhr mich, ich erschrak nicht undzweifelte nicht. Ich sah: Vor mir saß Christa T. Ich hätte ihr die Hand auf die Schulter legen können, aber ich tat es nicht. Sie sei es nicht, redete ich mir ein wider besseres Wissen, denn es war ihre Hand, die ich schreiben sah. Als sie hinausging, blieb ich sitzen, ich rief sie nicht an. Ich sagte mir: Wenn sie es ist, sehe ich sie jetzt jeden Tag. Das war zum Staunen, aber ich staunte nicht, und die Erregung, auf die ich wartete, blieb aus.
    Wenn sie es war – mein Gott, sie war es! –, so wollte ich zuerst von ihr erkannt werden. Ich wußte, daß man viele Namen und Gesichter in sieben Jahren vergessen kann, wenn man will. Wir waren damals streng mit unseren Erinnerungen.
    Dann standen wir uns unvermutet im schmalen Gang eines Kaufhauses gegenüber. Gleichzeitig, unwillkürlich gaben wir beide das Zeichen des Wiedererkennens. Sie war es, und ich war es auch. Ja, auch sie gab zu, mich schon in der Versammlung erkannt zu haben. Daß wir einander nicht fragten, warum wir uns erst jetzt, erst hier ansprachen, war das erste Zeichen der alten oder schon der neuen Vertrautheit.
    Wir traten aus dem Kaufhaus und gingen langsam durch die Straßen der Stadt Leipzig, die mir noch fremd waren, zum Bahnhof.
    Wiederauferstanden von den Toten. Wenn es Wunder gab, war dies eins, aber die rechte Art, es aufzunehmen, war uns auch abhanden gekommen. Wir ahnten kaum, daß man einem Wunder anders als mit halben Sätzen, mit spöttischen Blicken gegenübertreten kann. Über die kahlen Plätze, die wir passierten, pfiff noch der Wind, der sich in Nachkriegsstädten jeden Tag aus den Ruinenfeldernerhebt. In den Straßen fegte Staub vor uns her, es zog allenthalben, gemütlich hatten wir es nicht, wie immer schlugen wir den Kragen hoch und vergruben die Hände in den Taschen. Bedienten uns also jener halben Sätze und jener abwartenden Blicke, die noch am ehesten zu solchen Städten paßten.
    Christa T. ging leicht nach vorn geneigt, wie gegen einen schwachen, aber dauerhaften Widerstand, an den man sich gewöhnt. Ich schob es auf ihre Größe. War sie nicht immer schon so gegangen? Sie sah mich an, lächelte.
    Jetzt wußte ich auch, warum ich es mir verwehrt hatte, sie

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