Nachhaltig tot (German Edition)
sind wir, dass hier jeder aus der Straße reinmarschieren kann und unsere Bewohner mitnimmt? – Ich habe jetzt keine Zeit. Verschonen Sie mich mit Ihren Erklärungen! Sie haben genau eine Stunde Zeit, um herauszufinden, wo sie ist!”
Den ersten Bus ließ ich wegfahren. Ich versuchte, mich und meine Gedanken zusammenzureißen. Ins Heim konnte ich natürlich nicht mehr zurück. Am Abend vielleicht, wenn die Tagschicht vorbei war, könnte ich mein Glück an der Rezeption versuchen. Bis dahin musste ich aber am Leben bleiben. Ich griff zu meiner Tasche. Der Ordner war noch da. Plötzlich wusste ich, was zu tun war ….
Interessant. Problemsituationen machen mich in der Regel lahm. Ich stehe nur da und kann keinen Gedanken aus mir herausquetschen. Wie damals, als man mich bei der Prüfung nach den Buren ausfragte. Die Lebensgefahr hingegen scheint mich sogar zu inspirieren. (Hätte mich der Geschichtslehrer mit einer Machete angegriffen, wären die Jahreszahlen und Namen aus mir nur so herausgeflossen.)
Die Stadtbibliothek war praktisch leer. Die Bibliothekarin setzte sich gleich an ihren Computer, als ich ihr erzählte, ich bräuchte die Dokumente der letzten großen Bauprojekte der Stadt. Ich müsste für die Schule ein Essay schreiben. Leider habe die Bibliothek die Baupläne nicht, die könne ich im Rathaus besorgen, sagte die nette Frau, aber die Projektbeschreibungen könne sie mir zur Verfügung stellen. Diese fände ich aber auch im Internet. Und schon schrieb sie die Webadressen auf einen Zettel. Es gab drei große Projekte: das Altenheim, das Einkaufszentrum am Bahnhof und den Ring um die Stadt.
Das Internet war mir recht. Ich wählte absichtlich einen PC, den die Frau direkt sah. Wenn ich schon sterben musste, würde ich wenigstens einen Zeugen haben.
Die Dokumente waren sofort da. Ich fand sogar 3D-Modelle von dem Gebäude. Ich ließ mir zwei Exemplare von der Bibliothekarin ausdrucken. Eine Serie heftete ich in meinen Ordner ein (die Lebensgefahr machte mich nicht nur kreativer, sondern auch koordinierter), die anderen Blätter fing ich an zu studieren.
Auf den ersten Blick war alles in Ordnung. Die Wohnungen waren in beiden Flügeln symmetrisch verteilt. Im Erdgeschoss nur Wohnungen, im ersten Stock waren in dem einen Flügel die Büros. Ich suchte das Büro der Direktorin. Es fiel mir sofort auf, dass der Raum eine Etage tiefer doppelt so breit war. Die Büros befanden sich nur auf der einer Seite des Flurs. Die andere Seite war gar nicht eingezeichnet. Als wenn sie gar nicht existierte.
Die Wohnungen im Flügel B waren ganz in Ordnung. Die gleiche Verteilung, keine ungewöhnlichen Lösungen. Es musste aber gerade da etwas nicht in Ordnung sein. Ich fing wieder an, den Flügel A zu betrachten. Die Wohnung unter dem Büro der Direktorin war ein bisschen kleiner als die gegenüberliegende. Als wenn eine kleine Kammer aus dem Wohnzimmer geschnitten worden wäre.
Ein Aufzug! Von dem Raum hinter dem Bücherregal konnte man mit einem Aufzug unbemerkt zum Erdgeschoss fahren. Oder vielleicht noch tiefer? Plötzlich verstand ich alles. Durch das Büro der Direktorin konnte man den geheimen Flügel erreichen, wo weitere Büros oder Labors waren. Und unter dem Flügel B lief vielleicht auf mehreren unterirdischen Ebenen eine große Schweinerei ab.
Mein Gehirn arbeitete wie verrückt. Alleine kam ich nicht weiter. Wem konnte ich aber vertrauen? Woher konnte ich wissen, ob der ehemalige Kommissar vertrauenswürdig war?
Mit einer plötzlichen Idee meldete ich mich am Computer ab, zahlte die Gebühr fürs Internet und für die Ausdrucke und ging in das Erdgeschoss. Neben der Kantine gab es eine Telefonzelle. Ich rief das Heim an. Ich versuchte, meine Stimme zu verändern, ich machte zwischen den Wörtern längere Pausen. Man verband mich sofort mit der Direktorin, als ich sagte, ich wollte mit ihr über Bücherregale sprechen, sie würde schon wissen, wer ich bin. Sie nahm den Hörer sofort ab. Ich wartete ein wenig, erst dann sagte ich: „Ich bin’s. Es ging etwas schief. Torst ist nicht mehr drin. Wir müssen eine andere Kontaktperson suchen.“
Zu meiner größten Erleichterung fragte sie gar nicht nach meinem Namen. Als ich über Torst sprach, konnte ich ihre Verblüffung spüren. Ob ich ganz sicher wäre mit dem Namen? Gehe es nicht um einen Horst?
Horst? Es traf mich am Herzen. Ich sagte etwas wie, dass ich mich noch melden würde, dann legte ich auf. Der Kommissar ist also in Ordnung. Hans aber …
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