Nachhinein
kaum.
»Immerhin zwei gute Eigenschaften, he?« grölt der Bruder, während seine Hände weitergrabschen und deine Wangen sich krebsrot verfärben.
Mir wird schlecht. Mein Körper protestiert gegen das flache Atmen und die Luft, die von Sekunde zu Sekunde zähflüssiger zu werden scheint.
Das Brudergeschwätz überzieht den Raum mit öligen Schlieren.
Ich muss an Tankerunglücke und elend verendende Seevögel denken, die in schwarzer Schlacke strampeln.
Sexy Paula und ihr sonnenbebrillter Katerfreund haben längst das Weite gesucht.
Mir reicht’s. Ich springe auf, schnappe mir deinen Ellbogen und ziehe dich aus dem Ocker.
»Wir müssen jetzt gehen!«, erkläre ich und scheuche dich durch die Zimmer ins Freie.
Später, zwischen zwei köstlichen Atemzügen, rümpfe ich die Nase über meinem T-Shirt und hoffe, dass die Mischung aus Scham und Rauch, die von meinen Schultern zu mir aufsteigt, beim Waschen wieder rausgeht.
13.
Tausche schlanke Klavierschule, weiß wie das Porzellan einer gewissen Elefantensammlung, gegen stämmiges Gesangbuch, dessen roter Plastikeinband mit der Pfarrernase um die Wette leuchtet.
Bin wieder mal zum Ministrieren eingeteilt.
Schnell, schnell, Schuhe an, Jacke zu und rauf auf diesen Hügel, den ich auch freitags auf dem Weg zum Klavierunterricht zu erklimmen habe. Warum muss ausgerechnet meine Freizeit mit Aktivitäten angefüllt sein, bei denen geschwiegen, stillgesessen und die Hände in vorgegebene Formen gepresst werden müssen, in denen jedes gefaltete, verschränkte oder anschlagende Fingerchen einen festen, unabänderlichen Platz zugewiesen bekommt?
Den Scheitel des Kirchen- und Klavierhügels bildet eine graue, etwa zwanzig Meter lange Röhre, die wir »das Tunnel« (gesprochen: Tunell , E und letzte Silbe akzentuiert) nennen. Über dem Tunneldach rauscht und braust der Verkehr der Bundesstraße (B30). Angeblich verstecken sich dort, im Schutze der graffitibekritzelten Dunkelheit, Kinderschänder und Trenchcoatträger, welche ihre nackten Leiber bevorzugt unschuldigen Ministrantenfrischlingen vor die Nase halten.
Ich selbst bin bislang allerdings keinem dieser zeigefreudigen Gesellen begegnet. Der Ägypter auch nicht. Klar. Schließlich weiß jeder, dass es die Perversen ausschließlich auf Mädchen abgesehen haben. Jungs passiert nie was. Vor Janine oder Jacqueline dagegen wurde, wenn man ihren Berichten glauben darf, schon der ein oder andere Mantel aufgerissen … Nur mich, die ich jeden Sonntag aufs Höchste gespannt durch den Tunnel schleiche, innerlich voll und ganz auf Angriff, Nacktheit und Belästigung eingestellt, mich will scheinbar keiner traumatisieren, was jeden unbelästigt überstandenen Gang durch das röhrenförmige Dunkel zu einer kleinen Enttäuschung macht.
Man kann von Glück sagen, dass die ägyptischen und von Braunschen Kirchendienstpläne so viele gemeinsame Termine aufweisen – eine Tatsache, welche das Leid halbiert, diese sterbenslangweilige, absolut ereignislose Wegstrecke zurücklegen zu müssen.
Auch heute richten wir uns nach den Anweisungen des Amtsblatts. Gemeinsam pilgern wir den Berg hinauf, passieren Kloster und Sehbehindertenschule und knirschen schließlich über den kiesigen Vorplatz der Pfarrkirche St. Johannes auf die Sakristei zu.
Die Werkhalle Gottes ist ein langgestreckter, schlichter, beinahe schmuckloser Bau mit hohem Giebel und steilem, hellroten Dach. Ihr Westgiebel trägt, anstelle eines stattlichen Kirchturms, einen putzigen, sechseckigen »Dachreiter«. Das stumpfkurze Türmchen mit der Zwiebelhaube macht seinem Namen alle Ehre. Verbissen klammert es sich am Gebäude fest; wild entschlossen, das weiße, längliche Ding zuzureiten und zu zähmen, auf dass es weiterhin brav einer Kirche ähnle.
Natürlich beachten wir die Architektur unserer altehrwürdigen Kirche, deren Anblick uns längst zur Gewohnheit geworden ist, kaum noch. Vielleicht spähen wir kurz hinauf zur Uhr, lesen, dass wir wie üblich zu spät sind, und eilen weiter.
Eine der wenigen Annehmlichkeiten des Ministrantendaseins besteht darin, dass man sich das Aufwuchten des zentnerschweren Portals ersparen und durch die Hintertür ins Haus Gottes schlüpfen kann.
Wer immer die Türen jenes spitzflügeligen Haupttors gegossen hat, muss sich verrechnet haben. Offenbar wurden Nullen vertauscht, vergessen, versehentlich hinzuaddiert, mit dem Ergebnis, dass die ursprünglich noch standhafte Kirchenmauer dem massiven Druck des zu schwer geratenen Tores
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