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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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nehmend, auf die Galerie. Bauch und Gesicht in den Teppich vorm Klavier gedrückt, taste ich unter dem Instrument nach meinem, streng geheimen, karierten, DIN - A 6-Notizblock.
    Zurück im Wohnzimmer übertrage ich den Lexikoneintrag mit der Hingabe eines mittelalterlichen Mönchs. Kein Punkt, kein Strich, kein Komma und keine Klammer entgehen mir.
    15.
    28.12.1990
    Der Krawattenmann liest einen Text ab. Sein Vortrag ist unendlich langweilig.
    Die Sendung besteht im Wesentlichen aus der endlosen Wiederholung ähnlicher Bilder: Männer in Anzügen. Männer in Uniformen. Frauen und Kinder vor staubtrockenen oder überfluteten Landschaften. Löchrige Ruinen im Wechsel mit spiegelglänzenden Fassaden. Gestikulierende Menschen hinter Stehpulten, Fäuste schüttelnde im Pulk. Irgendjemand geht auf die Straße. Manche mit Trillerpfeifen. Alle fordern etwas. Die Zickzacklinie, die den Geldwert darstellt, macht was sie will. Flaggen und Plakate in Primärfarben. Jemand bekennt sich. Man klagt an. Gruppen, die sich den Anschein von Wichtigkeit geben wollen, verkürzen ihre Namen auf wenige, prägnante Buchstaben. Die Kürzel erscheinen links neben dem Krawattenmann, der an seinen freien Tagen von einer strengfrisierten Dame in einem etwas altmodischen Kostüm vertreten wird.
    Die Augen meiner Eltern kleben am Bildschirm. Kein Wort und keine Geste darf ihnen entgehen, schließlich haben sie den Fernseher eigens für diese 15-minütige, täglich ausgestrahlte Sendung angeschafft.
    Wer vor 20 oder nach 20:15 Uhr schon oder noch immer fernschaut, ist ein Prolet. So viel steht fest.
    Plötzlich verdunkelt sich das Zimmer. Vor uns flimmert diesige, gekörnte Nachtschwärze. Im Dunkeln rührt und regt sich was; das Bild scheint aus Abertausenden Ameisenleibern zusammengesetzt. Schatten, von denen keiner weiß, wer sie geworfen hat, zerbrechen die Fläche in Felder. Graue, braune und bläuliche Landstriche zeichnen sich ab. Obschon ich weder Menschen noch Häuser sehe, fühle ich ihre Anwesenheit irgendwo inmitten des düsteren Brodelns.
    Ohne Vorwarnung zerbirst die dunkle Kruste.
    Leuchtendgrüne Lavaströme sprudeln aus der Bildmitte.
    Neonstickerfarbene Sterne blühen auf.
    In allen Ecken funkelt, kracht und saust was. Kometen ziehen Schweife. Es bleiben Kurven stehen: Nachtansichten eines Regenbogens in grün.
    Als der Krawattenmann das Wort »Rakete« erwähnt, werde ich hellhörig. Vorsichtig schiele ich nach den Elterngesichtern.
    Ihre Bestürzung bestätigt mich.
    Der Brockhaus hat nicht gelogen. Ihre bedrückten Gesichter sind mir Beweis genug. Sie und ich, wir sind die Nachfahren des Raketenbauers!
    Die besorgte Falte auf meines Vaters Stirn; seine hoffnungslos absinkenden Schultern beim Anblick des froschgrünen Feuerwerks, zeigen es deutlich: Sein Erbe ist ihm eine Last. Er will weder Kriegstreiber, noch Abkömmling eines solchen sein.
    Mir ist danach, die kurzen Arme tröstend um seine volle Breite zu schlingen. Er kann doch nichts dafür ⁠…
    Mein Widerwillen gegen die Zunge des Krawattenmanns, die am »Krieg« lutscht, bis er keine Bedeutung mehr hat, wächst.
    Was können wir von Brauns dafür, dass man unsere Erfindungen zweckentfremdet?
    Raketen gehören in höchste Höhen und fernste Fernen, nicht auf diesen kleinen, beengten Erdball, denke ich und umarme meinen Vater ein zweites Mal.
    Mit dem Wetterbericht glätten sich die Mienen. Zum Jahreswechsel soll es Schnee geben. Schön.
    16.
    31.12.1990
    Meiner Mutter kommt kein einziges Körnchen Schwarzpulver ins Haus.
    Somit werden auch dieses Jahr, von unserem Grundstück auf der Ostseite der Hirsch- oder Reh-, Frosch- oder Eulenstraße aus, keinerlei effekthascherische Funkenschweife gen Himmel streben.
    Den Grund ihrer Abneigung zu kennen, erleichtert den Verzicht ungemein.
    17.
    Wieder Wonnemonat. Sonnig, mit hohem, hellgrünen Gras, in welches wir ein Labyrinth aus Gängen schlagen.
    Ich mache mich fest, rage kerzengerade aus dem Grün auf, bevor ich mich fallen lasse. Erst lösen sich Zehen, dann der Mittelfuß. Schon schwebe ich schräg in der Luft, unter den Fersen zwei kleine Kuhlen. Mit aller Schwerkraft zieht der Erdboden an meinem Rücken. Ich leiste keinerlei Gegenwehr, lasse Hände und Arme lässig baumeln. Sie müssen mich nicht stützen, nichts abfangen, nichts verhindern. Die gräserne Matratze federt und fängt und sorgt für einen weichen Fall. Was entsteht, ist Mulde, Kerbe, Grube, ist Rinne, Senke, Graben, ist Weg und Pfad und Flur in der Flur,

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