Nachhinein
eines Tages nicht länger standhalten konnte. Ganze sechs Stufen tief rutschte es ins Mauerwerk, wo es bis heute sitzt; stets bereit, gnadenlos zuzufallen. Eine Gefahr für Kinder und Gebrechliche …
Der Ägypter und ich durchstöbern die muffigen Sakristeischränke nach Gewändern, welche die Grasflecken auf unseren Hosen verdecken, ohne dabei zur Stolperfalle zu werden. Ein falscher Tritt auf den Kuttensaum, ein ungeschicktes Stolpern und schon geht ein Leuchter zu Bruch. Ganz zu schweigen von der Gefahr, das reichbestickte Messgewand des Dekans, das man bestimmt nicht in der Waschmaschine waschen kann, mit Messwein zu bekleckern. Nein. Stolpern ist nicht drin.
Die Mesnerin überprüft die Gewandlängen, als hinge ihr Seelenheil davon ab. Selbstverständlich müssen auch die Holzkreuze, die uns an langen, hellen Kordeln von den Hälsen baumeln, richtig sitzen; dürfen weder Hundehalsband, noch Bauchnabellänge haben, wobei ein zu tief hängendes, unkeuschen Hüftregionen gefährlich nahekommendes Kreuz den größten Fauxpas bedeutet.
Irgendwann, gegen Ende des üblichen Ankleidechaos, formieren wir uns zum Einmarsch und preschen, begleitet von dröhnenden Orgelklängen, auf die Gemeinde zu: milchgesichtige, rot-weiße Knappen, welche dem, im schräg einfallenden Licht hell glitzernden, dekanschen Brokatbauch auf seinem Weg zum Altar hin nachfolgen.
Normalerweise sitzen wir uns gegenüber, mein ägyptischer Freund und ich. In seinem Rücken räkeln sich die Gebeine von Donatus und Bonifatius in ihren Glassärgen. Mir sitzt das Pestkreuz im Nacken.
Zwischen uns schwimmt die blumengeschmückte Altarinsel.
Der Dekan pendelt geschäftig zwischen den rostroten Altar- und Amboblöcken aus Sandstein hin und her. Er sieht nicht, dass wir an den Kordeln drehen und die Kreuze kopfstehen lassen … Nur die unruhigen Augen der Mesnerin, wachsam, als gehörten sie Personenschützern beim Staatsakt, unternehmen ihre Kontrollgänge durch die Reihen und bemerken alles. Gestikulierend und unter drohendem Zischeln verlangt sie die sofortige Beendigung des Unfugs, sonst …!
Starrt man sich gegenseitig viele Gottesdienste lang in die Augen, lernt man auch die zartesten mimischen Andeutungen richtig zu interpretieren.
So kann es geschehen, dass, wenn man auf den Stufen der Altarinsel niederknien und das Abendmahl einläuten soll, plötzlich kleine, durch Kopfnicken vereinbarte Änderungen im Klingelrhythmus die liturgische Routine gehörig aufmischen – was den Dekan und die alten Weiber in den vorderen Reihen stets zuverlässig in Rage versetzt.
Zuweilen kam es vor, dass unsere kichernde und fratzenschneidende Anwesenheit nicht länger geduldet wurde. Dann wurden wir von der Mesnerin durch ein Seitenschiff, vorbei an der eleganten Volkspatronin Margaretha, die »den Teufel wie einen Hund an die Leine gelegt hat«, und der mystisch verzückten, mit Wundmalen begnadeten »guten Beth von Reute«, auf den kiesigen Vorhof abgeführt, wo wir das Ende des Gottesdienstes abwarten mussten.
Den Rest der Messe, von der kaum ein Wort durch die meterdicken Mauern in den Hof drang, verbrachten wir damit, uns die Äpfel aus dem angrenzenden Klostergarten zu teilen. Feierlich reckten wir die Arme gen Himmel, riefen gemeinsam ein verzücktes »Tut-dies-zu-meinem-Gedächtnis!« und bissen kräftig zu.
Wenn dann endlich die Orgelklänge des Schlusslieds erklangen, wünschte ich mir stets den Mut, kurzerhand mit gerafften Gewändern den Altar zu besteigen und ausgelassen Can-Can zu tanzen. Natürlich würde der Organist die veränderte Lage blitzschnell erfassen, sein behäbiges Spiel einstellen und meine fliegenden nackten Beine mit rasenden Melodien im 2/4-Takt untermalen. Alle Rock und Kutte tragenden Kirchgänger, selbstverständlich auch der Dekan, würden begeistert meinem Beispiel folgen und eine lange, schenkelschleudernde und hüftschwingende Reihe bilden.
Der gepeinigte, leidende Gottesknecht, der mir seit Jahren vom Pestkreuz aus über die Schultern guckte, dieser gottverlassene, von Kopf bis Fuß entstellte, mit Bluttropfen übersäte Schmerzensmann, wäre plötzlich vergessen. Seine Beulen, Striemen und Wunden, die scharfkantigen Rippen und verzerrten Züge nichts als eine verblassende Erinnerung im Sfumato der Vergangenheit.
Ich war mir sicher: Wer sich nach Seelenheil und einem von Grund auf gereinigten Geist sehnt, muss selbstvergessen die Beine werfen!
Leider konnte sich der Ägypter nicht sonderlich fürs
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