Nachhinein
Can-Can-Tanzen begeistern.
Er wollte es nicht mal versuchen.
Nicht mal im Tunnel, wo’s außer den Kinderschändern und Trenchcoatträgern bestimmt niemand gesehen hätte.
14.
21.12.1990
Ich schiebe den Sofatisch gegen die nagellackrote Brockhauswand und klettere von dort ins Regal. Der Buchstabe B befindet sich gefährlich weit oben, aber bei maximaler Muskel- und Sehnendehnung, voll ausgestreckt, das Körpergewicht auf der Spitze aller Zehen balancierend, reicht es grade so, um an den Band zu gelangen. Mein rechter, mittlerer Fingernagel bekommt das Randstück eines Rückens zu fassen. Ich ziehe, bis der Wälzer wackelt, kippt und aus der Schutzhülle direkt in meine Arme flutscht.
Der Abstieg mit Marschgepäck gestaltet sich weitaus schwieriger als gedacht, aber ich bin zäh. Unbeirrt, die Bücherbeute fest zwischen Rippen, Achsel und Oberarm verkeilt, kraxle ich abwärts zur Talstation Sofa.
Das Übernachtungsverhör im Leopardenkitschhaus hat seine Spuren hinterlassen. Jede Frage eine kleine, scharfe Absatzdelle in meinem Kopfparkett. Völlig gedankenlos ist sie drauflos marschiert, die Leopardin in ihren Stöckelschuhen.
Meine schöne, glatte, absolut zweifelsfreie Vergangenheit: Ruiniert.
Und die Eltern?
Reden nichts, verraten nichts, vertrösten mit schwachen Andeutungen.
Das Gros meiner Vorfahren scheint in die warnenden, roten Tücher des Tabus gehüllt. Warum, bleibt unklar.
Ich bettle nicht gerne um Antworten. Zum Glück gibt es die Brockhauswand, für die gilt: Lesen oder Lücke, Wissen oder Nicht-Wissen, Auflisten oder Auslassen. Verschweigen kann sie nichts.
Beim Anblick der Bücher muss ich plötzlich an das alljährliche »Nikolaus-Turnen« denken …
Irgendein verkleidetes Turnvereinsmitglied älteren Semesters stolziert an den Sprossenwänden entlang und verteilt Mandarinen, den gebückten, schwer beladenen Knecht Ruprecht im Schlepp … Selbstverständlich öffnet der Verkleidete auch dann und wann das goldene Buch, woraufhin die kleinen und kleinsten Turner sich vor Ruprechts Rute ängstlich in ihren grellen Trikots verkriechen und vor Schreck erbleichen. Dabei besteht das »Buch« lediglich aus einem, von einer handwerklich geschickten Mutter mit Goldpapier umwickelten Einband ohne Seiten …
Vorsichtig fahre ich mit dem Daumen den Goldschnitt des Lexikons ab. Wenn es tatsächlich ein »Buch des Wissens« gibt, dann muss es dieses hier sein. Die Tatsache, dass es nicht nur einen, sondern 30 Bände und eine ganze Wohnzimmerwand braucht, um seine Weisheit zu fassen, bestärkt mich in der Hoffnung, dass es nicht nur wissend, sondern vielleicht sogar allwissend sein könnte. Entschlossen schlage ich den Deckel zurück.
So, Buch, nun kannst du beweisen, wie viel Schläue tatsächlich in dir steckt!
Bl… Bo… Bp… Bra… halt! Da ist es: Braun.
Die Farbenlehre überspringe ich.
Auf den nächsten Seiten sind eine ganze Reihe Brauns aufgelistet. Doch keiner der Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller oder Schauspieler bringt mich auch nur in die Nähe der Antwort, nach der ich suche.
Mein Vertrauen in die Enzyklopädie schrumpft und schrumpelt wie ein alter Luftballon. Fast hätte ich aufgegeben, als sich mein Blick plötzlich in folgendem Absatz verhakt:
»Wernher von, egt. W. Magnus Maximilian Freiherr von Braun. Amerikan. Raketenkonstrukteur dt. Herkunft. * Wirsitz 23.03.1912, gest. Alexandria 16.06.1977. Entwickelte seit 1932 im Auftrag des Heereswaffenamtes Flüssigkeitsraketen und wurde 1937 techn. Direktor an der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde (seitdem Mitgl. NSDAP ); leitete in der Versuchsanstalt (nach deren Zerstörung 1943 Fortführung im KZ Mittelbau Dora bei Nordhausen) die Entwicklung der Flüssigkeitsrakete A4 (später V2), die er ab 1945 in den USA (seit 1955 als amerik. Staatsbürger) fortsetzte; trieb 1959–72 als leitender Mitarbeiter der NASA (u. a. Direktor des Raumfahrtzentrums in Huntsville, Ala.) die Entwicklung großer Trägerraketen für das amerikanische Raumfahrtprogramm voran, u.a. der Jupiter-C-Rakete, mit der 1958 der Erdsatellit Explorer 1 auf seine Bahn gebracht wurde, und der im Apollo-Programm eingesetzten Saturn-Raketen.«
HA !
Triumphierend throne ich in meinem gepolsterten, lederbezogenen Adlerhorst des Wissens.
Irgendwo, weit unter mir, winkende Eltern und, in noch tieferen Tiefen, eine winzige Leopardin.
Jetzt ist nicht die Zeit für Siegesfeiern, ermahne ich mich und spurte, so viele Treppen wie möglich auf einmal
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