Nachhinein
Stücke. Das Publikum lauscht gebannt. Um Störungen zu vermeiden und der Pianistin das größte Maß an Konzentration zu ermöglichen, hat es sich unsichtbar gemacht. Kaum dass die letzten Takte des Adagios »Die Kopie« verklungen sind, toben Beifallsstürme durch die Galerie.
Eben will ich vom Leder rutschen und mich, wie es mir zur Gewohnheit geworden ist, tief und mit bescheiden gesenkten Lidern vor meinen Zuhörern verbeugen, als sich ein lautes Räuspern zwischen die Klatscher drängt. Irritiert wende ich mich dem Geräusch zu, dessen Verursacher mein Vater ist.
Irgendwie hat er sich durch das Dickicht seines Arbeitszimmerdschungels bis auf die grüne Teppichlichtung der Galerie vorgekämpft. Er beendet sein Geräuspere und spricht:
»Das kannte ich noch gar nicht …«
»Ist auch ganz neu. Hier: »›Der Ägypter‹ und ›Die Kopie‹ …« Ich halte ihm die Porträtpartituren vor die Nase.
»Aha …und was ist mit der Leopardin?«
»Welche Leo- ach so! Das ist die Mutter von der Kopie!«
»Soso … Die Mutter …« Er macht eine kleine, nachdenkliche Pause.
»Es gab mal einen berühmten Pianisten, der hat auch so vor sich hingemurmelt beim Spielen … Er hieß Gould. Glenn Gould.«
Andächtig wiederhole ich die weiche, anschmiegsame Buchstabenkombination. Gläääännn Gooouuuuuld – das lässt sich ziehen wie Kaugummi.
»Komm, ich zeig dir was!«
Die Hand meines Vaters führt mich vor das große Regal mit den Schallplatten. Zielsicher fährt er mit dem Finger zwischen die dünnen Rücken, zieht eine der quadratisch verpackten Scheiben heraus und drückt sie mir in die Hand.
In der oberen Hälfte des Plattencovers türmen sich fettgedruckte » GLENN GOULD «-Schriftzüge in Gold und Schwarz. Der zehnmal wiederholte Name des Pianisten verbindet dabei den weiß glänzenden Hintergrund der oberen Hälfte mit dem Schwarz-Weiß der Fotografie in der unteren Quadrathälfte.
Das Foto ist körnig, ein bisschen verwischt … Es zeigt einen jungen Mann, dessen überbelichtetes Hemd hell leuchtet. Eine dunkle, etwas aufmüpfige Haarlocke, die er, da er beide Hände am Klavier hat, nicht zurückstreichen kann, fällt ihm über die Stirn ins Gesicht. Sein Mund ist leicht geöffnet, fast so, als würde er singen. Am auffälligsten aber ist seine Haltung, die Art, wie er den Rücken krümmt und sich weit, sehr weit zur Klaviatur hinabbeugt.
Vielleicht geht es ihm wie mir, mutmaße ich, und er würde am liebsten in die Tasten hineinkriechen …
»Beethoven: Sonata No.30 in E Major, Op. 109, Sonata No. 32 in Flat Major, Op. 110 Sonata No. 32 in C Minor, Op. 111”, steht da, dicht über seinem krummen Rücken.
Mein Vater legt die Platte auf.
Die Nadel durchwandert gerilltes Schwarz. Das Klavier erfüllt den Raum.
Wir lauschen, bis es draußen dunkel und drinnen still wird.
12.
Ich presse den quadratischen, schmutzigweißen Klingelknopf, bis meine Fingerspitze fast vollständig in der Wand verschwindet. Tiefer geht nicht.
Drinnen schrillt es.
Der Finger piekt und triezt den Knopf beharrlich.
Dreimal.
Viermal.
Als ich zum fünften Stich ansetze, knarzt deine Stimme aus der Sprechanlage, und mein Körper beantwortet das Knarzen mit dieser routinierten Bewegungsabfolge, mit der ich meinen Mund dem Lautsprecher nähere. Es folgt der immer gleiche Spruch:
»Ich bin’s, LottaLuisaLuzia. Kommst du raus?«
Kurze Schweigepause.
»Hmmm … Mein Bruder ist grade da … Komm erst mal rein! Ich werfe mich gegen die surrende Tür und nutze den Hausgang für ein paar letzte, rauchfreie Atemzüge.
Es kostet mich einige Überwindung, mich selbst über die Schwelle zu schubsen und ins Brackwasser deiner Wohnung einzutauchen. Am liebsten würde ich die Luft anhalten, Mund, Nase und Augen fest verschließen, dich bei der Hand nehmen und schnellstens ins Freie flüchten.
Ich tue nichts von alledem.
Stattdessen lasse ich mich hereinwinken und taste mich durch den Schattensumpf des fensterlosen Vorraums bis ins Wohnzimmer. Zwielichtige, im Morast des Halbdunkels versunkene Gegenstände schielen mir nach.
Ich halte mich kerzengerade. Nur keine Furcht zeigen! Überall lauert und kauert was. Böswilliges verschleiert sich blau. Hinter der angelehnten Schlafzimmertür schnarcht es bedrohlich.
Dich zu besuchen gleicht meinen von Panik begleiteten Versuchen, im Häckler Weiher zu schwimmen … Die Vorstellung des Seegrunds, der Abertausenden Schlingfänge, Schlangenleiber und
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