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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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Es ist ein vorsichtiges, langsames Nicken. Dann scheint er eine Entscheidung zu treffen. Sein Tonfall wird heiter, fast fröhlich.
    »Die meisten behaupten ja, dass die Musik etwas Himmlisches ist …«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Nein? Wieso nicht?«
    »Der Himmel hat zu wenig Körper. Außerdem ist er still … hat keinen Rhythmus … Der Mond und sein Takt – das kümmert ihn gar nicht. Er führt alles vor: die Sonne, die Sterne … sehen darf man, begreifen tut man nichts.«
    »Auch die Musik verflüchtigt sich …«
    »Aber doch niemals ganz! Mein Herz ist IMMER da. Auch wenn alles still ist, der Rhythmus bleibt.«
    Ob er versteht, was ich meine? Ich mag den Himmel, will ihn nicht schlecht reden, versuche es anders: »Sie sind sowieso verbunden.«
    »Wer?«
    »Na, Himmel und Meer! Ich meine, am Horizont, da verschwimmen doch die Blaus. Die Sonne färbt die Wellen … Nachts legen sich die Sterne drauf … Nur andersrum, andersrum funktioniert’s nicht! Das Meer spiegelt sich in keinem Himmel.«
    Stille. Er schaut auf seine Uhr. »Wie dem auch sei … Ich denke doch, dass du Pianistin werden willst, oder täusche ich mich da?«
    »Nein. Also ja … ja, will ich, keine Täuschung«, stammle ich wirr.
    »Nun, wenn das dein Ernst ist, dann wird dein Boot nicht ausreichen. Was du brauchst, ist ein Schiff, ein Schiff und Erfahrung. Du musst lernen, mit einer Mannschaft zusammenzuarbeiten …«
    »Sie meinen das Orchester?«
    »Genau.« Er packt seine Noten zusammen. »Wie alt bist du jetzt?«
    »Elf.«
    Seine Miene wird streng. Steile Falten graben sich zwischen seine Brauen. »Eben! Es wird höchste Zeit. Talent haben viele … In zehn Jahren kräht kein Hahn mehr danach, ob dich dein Musiklehrer für ein Wunderkind gehalten hat.«
    »Sie kennen meinen Musiklehrer?«
    »Zufällig kenne ich ihn, ja. Aber das tut jetzt nichts zu Sache … Dein Spiel muss zielgerichteter werden. Du schweifst zu viel ab, ignorierst die Tempi … Im Orchester geht das so nicht, da muss ein Rädchen ins andere greifen!«
    Ich zucke mit den Schultern. Unwillkürlich schiebt sich meine trotzige Unterlippe nach vorne. »Ich spiele so, wie ich spiele.«
    Keine Ahnung, warum er jetzt lacht.
    Dann verlassen wir den Proberaum. Draußen wartet der Ägypter auf mich.
    »Also dann …« Ich strecke dem Dirigenten meine Hand hin, die er fest und einen Augenblick länger als nötig schüttelt.
    »Ich verspreche dir, du wirst nichts verlieren und Berge dazugewinnen … Wir sehen uns Donnerstag!«
    Ohne meine Antwort abzuwarten, dreht er sich um und verschwindet mit langen, schnellen Schritten in der Dunkelheit.
    49.
    Sechste Stunde: Latein. Ich bin auf Seite 127.
    »… die Schlinge pendelte zwischen ihm und mir. Schneeflocken setzten sich darauf. ›Ich sitze in meinem Dreck‹, sagte er. ›Ich bin schon ganz wund. Sie hat mich sauber gehalten und mir zu essen gebracht. Sie ist nicht mehr da. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich fort möchte aus diesem Elend? Das ist kein Leben mehr. Bitte!‹ Er griff wieder nach der Schlinge. Diesmal riss ich sie ihm nicht aus der Hand. Er bedankte sich und legte sie sich um den Hals. ›Fertig‹, sagte er. ›Du musst aber fest treten, hörst du?‹ Ich schluckte, dann trat ich mit aller Gewalt …«
    Ah, verdammte Scheißhand! Am Morgen war sie ruhig. Jetzt ziept sie wieder, verlangt nach Aufmerksamkeit, will geknetet und geglättet werden. Vor mir auf der kühlen, mit Sprüchen und Spickzetteln bekritzelten Tischplatte liegen vier Finger und eine verkrampfte Kralle. Mit Hilfe meines rechten Handballens walke ich die Krümmung platt. Erleichtert dehnen und strecken sich die verkürzten Sehnen. Die Narbe atmet auf.
    »… trat ich mit aller Gewalt gegen den Wagen, dass er fortschoss und rannte davon. Erst am Ende des Parks schaute ich mich um. Da pendelte Andreas noch.«
    Ich weiß nicht, warum mir jetzt Tränen kommen. Die Buchstaben verschwimmen. Ihre schwarzen Körperchen, gebogen, gerade, gepunktet und ungepunktet, tauchen in den tränigen Film, der meine Augäpfel ummantelt und mir die Sicht verwässert. Einmal eingetunkt verlieren die Lettern Kontur und Klarheit. Mein Salzwasser löst alles auf. Nur die Bedeutung bleibt. Der Sinn der Worte ist längst hinter Stirn und Brustbein angekommen.
    Meine Hand juckt wie verrückt. Der liebe, alte, vertraute Text hat etwas aufgestört.
    Seit zwei Jahren schlage ich große Bögen um die Erinnerung an diesen Tag und alles, was darauf folgte. Wenn sich die Narbe

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