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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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mich um einen möglichst lässigen Ausstieg, verstecke meine diebische Freude über den bewundernden Ägypter-Blick und wringe mir die Haare aus.
    Als ich später bäuchlings auf den warmen Steinplatten neben dem Springerbecken liege, staune ich zum wiederholten Mal über die lange Kette von Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten, deren Zusammenspiel mich ans Schweizer Ufer dieses sich südwärts bis nach Italien schlängelnden Sees gespült hat. Um das bilinguale Gewässer durch die Bäume glitzern zu sehen, bräuchte ich nur den Kopf zu heben. Aber ich rieche ihn auch so, den See, und beschließe, noch ein bisschen hinter dem rötlich-schwarzen Vorhang meiner Lider zu verweilen.
    46.
    »Jugendsymphonieorchester« ⁠… Nie im Leben hätte ich gedacht, dass mich jemand zur Mitwirkung in einem solchen Verein bewegen könnte. Vielleicht war ich nach der ganzen Sache mit JasminCelineJustine tatsächlich etwas angeschlagen. Anders kann ich mir den Umstand, dass ich den Ägypter eines Abends zur Probe begleitet habe, nicht erklären.
    Wochenlang hatte ich erfolglos versucht, mich der Stereobeschallung durch Mutter und Ägypter, die mich permanent zum »wenigstens probieren, nur einmal« aufforderten, zu entziehen. Die fixe Idee der beiden klingelte mir hartnäckig in den Ohren. Mir blieb keine Wahl. Wollte ich diesen Tinnitus endgültig loswerden, musste ich wohl oder übel an einer Probe teilnehmen ⁠…
    Damals saß, in Ermangelung einer jugendlichen Person, die Frau des Dirigenten am Flügel. Der Rest der Truppe bestand hauptsächlich aus adrett gekleideten Strebern die, ich muss es zugeben, ihre Instrumente allesamt beherrschten. Punkt sieben Uhr kam der Dirigent mit langen, schnellen Schritten auf sein Pult zugeflogen. Was folgte, waren zwei hochkonzentrierte Stunden musikalischer Schwerstarbeit. Nachdem sich mein Erstaunen über die Qualität des Orchesters gelegt hatte, versuchte ich mit Hilfe der Partitur, die man mir zu Beginn der Probe freundlicherweise in die Hand gedrückt hatte, Unterschiede im Spiel der einzelnen Musiker herauszuhören. Die meisten spielten genauso fehler- wie emotionsfrei. Besonders den Mädchen mangelte es an Dynamik. Im ersten, flötenden Halbkreis zu Füßen des Dirigenten tönte es besonders roboterhaft. Weiter hinten jedoch stieß ich plötzlich auf etwas, oder vielmehr jemanden, dessen Vortrag und Aussehen mich gleichermaßen begeisterten. Es war der Cellist. Ein Junge, zwei oder drei Jahre älter als ich, dem die schlaffen Strähnen eines herausgewachsenen Irokesenschnitts über Stirn und linkes Auge fielen. Auf der Brust seines ausgewaschenen T-Shirts prangte ein gelber Schriftzug, dessen Druckbuchstaben teilweise vom Hals seines Cellos verdeckt wurden (» NIR ANA «) und durch die Löcher seiner Jeans lugten zwei Kniescheiben. Die Frage, was er in diesem Streberverein zu suchen hatte, beschäftigte mich bis zum Ende der Probe, die er, wort- und grußlos, die Ohren mit Kopfhörern verstöpselt, als Erster verließ.
    Ohne den Cellisten hätte ich mich niemals zu einem Vorspiel durchringen können. Der Gedanke, dass ich vom Zusammenspiel mit anderen profitieren könnte, war mir bis dahin absurd und absolut unwahrscheinlich erschienen.
    Seit meinem ersten Vorspiel sind inzwischen fast zwei Jahre vergangen.
    47.
    Ich öffne die Augen. Vor mir liegen vier hintereinander gestaffelte Raumschichten. Becken, Liegewiese, Pappeln und See überziehen mein Blickfeld mit unterschiedlich breiten Streifen in Grün- und Blautönen. Ich drehe mich auf den Rücken, strecke dem in Himmelfarben flirrenden, gigantisch großen Monochrom meinen Bauch entgegen. Die Ferienlager-Nächte, welche wir in Militärzelten verbringen, sind kurz. Besonders für mich, die ich zumeist erst im Morgengrauen zurück ins Mädchenzelt schleiche, wo Flöten und Klarinetten seit Stunden selig schlummern ⁠… Klar, dass mir die Lider, sobald ich mich in die Horizontale begebe, unwillkürlich zuklappen, als wäre ich eine dieser Puppen mit Schlafaugen.
    Auch jetzt sind meine Lider geschlossen. Um meine braungebrannte Nase formiert der Wind die verschiedensten Essenzen.
    Ich rieche den See, erschnuppere seine kühle Tiefe, modrigen Schlick und das feuchte, faulige Holz altersschwacher Fischerboote, wittere die langen, spitzen Blätter trauriger Weiden, deren silberne Schöpfe die Wellen waschen. Die Westküste sendet staubig-pudrige Veilchendüfte aus. Zuweilen intensiviert sich die frische, fruchtige Süße, wird blumig,

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