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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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meldet, kümmere ich mich. Ich lasse mich abwechselnd traurig und rasend vor Wut sein angesichts meiner Verkrüppelung. Aber erinnern? Nein.
    Nun haben sie mich doch erwischt, die alten Bilder. Die Schlinge, der Hals, der Tritt und das Pendeln haben sie aus den Tiefen meines Gedächtnisses gezogen.
    In den Dunkelkammern meines Hirns wurde ganze Arbeit geleistet. Ich begreife, dass die präzisen Abzüge jenes Tages in einem Entwickler aus Schuld gebadet wurden.
    Mein inneres Auge hat kein Lid. Ich muss hinsehen.
    50.
    Kurz nach dem Abendessen klingelt es an der Tür. Meine Eltern erwarten niemanden. Es kann also nur für mich sein, und wenn es für mich ist, ist es sie. Der Ägypter kommt nie unangemeldet. Ich öffne die Tür.
    »Kommst du raus?«
    Sie ist blass. Ihre Füße tänzeln nervös auf der Fußmatte. Während wir sprechen, dreht sie sich nach der Straße um, wirft gehetzte, misstrauische Blicke auf den Gehweg. »Mach schnell … Ich warte!«
    Eine Mischung aus Neugier und Pflichtgefühl lässt mich in Stiefel und Jacke schlüpfen.
    Als ich im Hof ankomme, erlischt die letzte rosarot glühende Wolke. Es riecht nach Schnee. Für den Klotz ist es längst zu kalt. Es gilt, in Bewegung zu bleiben.
    Ich lasse JasminCelineJustine die Richtung vorgeben. Sie steuert uns südwärts, geradewegs auf den Rathausplatz zu. Da der Wald unser Dorf in einem Halbkreis umschließt, gibt es kaum einen Punkt, von dem aus man nicht innerhalb kürzester Zeit unter Bäumen wäre. JasminCelineJustine und ich schätzen diese besondere Lage sehr, und unsere Streifzüge führen uns fast immer in bewaldetes Gebiet.
    Bereits nach wenigen Hundert Metern weiß ich, dass es heute die »große Runde«, an Rathausplatz, Bach und Bädle entlang, bis hinauf zum Waldspielplatz werden wird. Im Gehen steckt mir meine Weggefährtin ein fünffach gefaltetes Blatt Papier zu.
    »Vom Master«, flüstert sie und beschleunigt den Schritt.
    Am liebsten würde ich den Zettel sofort wegwerfen, traue mich aber nicht. Unwillig falte ich die karierte Seite auf und überfliege die krakeligen Zeilen. JasminCelineJustines Handschrift und die des »Masters« gleichen sich wie ein Ei dem anderen.
    Anfänglich hat mich diese Übereinstimmung noch ernstlich gekränkt und empört. Jeder einzelne Satz erschien mir eine infame Beleidigung meiner Intelligenz zu sein. Für wie blöd hält sie mich eigentlich? Erst war ich zu wütend, dann zu eingeschnappt, um diese Frage auch laut zu stellen. Inzwischen habe ich mich jedoch an die Post vom »Master« gewöhnt, sie als einen Teil des Spiels akzeptiert.
    Inhaltlich unterscheiden sich die einzelnen Briefe kaum. »Sie gehört mir … Ich kann mit ihr machen, was ich will … Wenn ich sie ficken will, fick ich sie … Niemand kann mich hindern …« Ich lese längst nicht mehr alles. Meistens bewege ich nur die Augen übers Papier, stelle mich eine Zeit lang lesend, bevor ich das Blatt zusammenknülle und in den nächsten Mülleimer stopfe. Keiner der Master-Briefe darf je von Dritten gefunden oder gelesen werden, so lautet JasminCelineJustines Anweisung. Es ist erstaunlich, wie leicht sich ein Text vernichten lässt, dem man nicht glaubt.
    Wir überqueren den Rathausplatz und passieren das Wirtshaus, dessen Schankstube mit den grünlich-bräunlichen Butzenscheiben schon unzählige Male Schauplatz für JasminCelineJustines Geschichten war. Da nähert sich ein vertrautes Knattern. Gleichzeitig wenden wir die Köpfe dem Geräusch zu. Noch ehe ich die Hand zum Gruß heben kann, packt sie meinen Arm und rennt los. Verwirrt stolpere ich neben ihr her. »Was ist denn …?«
    »Red nicht, lauf!«
    Wir erreichen den Waldrand. Ich lasse mich hinter den Stamm einer dicken Eiche ziehen. Neben mir keucht es. Ich verstehe kaum ein Wort.
    »Er … er verfolgt mich!«
    »Wer?«
    Sie starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an und schreit: » WER WOHL !? DER MASTER !!«
    Erschrocken über ihren Ausbruch schlägt sie die Hände vor den Mund. Ängstlich blickt sie sich nach allen Seiten um und gibt mir Zeichen, näher zu rücken. Ich spüre ihren Atem an meinem Ohr. Sie flüstert. »Er ist überall … Es gibt kein Entrinnen!«
    Schweigend stehen wir Seite an Seite. Vor uns verfilzt das dichte Baumgewebe, wird undurchsichtig, undurchdringlich. Der Wald versinkt im Morast nachtschwarzer Schatten. Wir sollten umkehren, bevor …
    »Hörst du das?« Sie zerrt mich am Ärmel. In ihrem Gesicht flackert es weiß. Ich kann die Angst unter ihren Achseln

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