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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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betörend und aufdringlich, verdichtet sich zu schweren Dämpfen, deren morbide Schwüle das Atmen erschwert. Auch den schattigen Osten mit seinen Kastanien, Tannen und Fichten kann ich riechen. Herbe, harzige, leicht teerige Gerüche wehen von dort herüber. Auch Kiefern, Kampfer und Lorbeer machen sich bemerkbar: eine scharfe, fast medizinische Mischung mit einem Hauch Eukalyptus ⁠…
    Schnuppern. Schlummern. Schnuppern. Schlummern. Die Haut trocken und heiß, vollgetankt mit Sonne, liege ich still, ganz still. Das Tapsen nasser Füße auf den Steinen entgeht meinen müden Ohren.
    Plötzlich wird es so schattig, als hätte der Himmel eine Wolke auf mich herabgeschleudert. Ich spüre noch die ersten Tropfen, dann wird es kalt, eiskalt. Auf meinem Bauch liegt der ausgekühlte, klatschnasse Cellist und grinst. Mein erschrockenes, protestierendes Kreischen beeindruckt ihn nicht besonders. Wie eine Hängematte werde ich an Armen und Beinen zwischen Cellist und Ägypter aufgespannt und auf das Becken zugeschleift. Selbstverständlich wehre ich mich nach Kräften, spiele die Empörte, und es gelingt mir, meine Füße aus den Händen des Ägypters zu befreien. Um mich dennoch ins Nasse zu befördern, umschlingt mich der Cellist mit beiden Armen und lässt sich rückwärts ins Wasser fallen.
    Es kann nichts Schöneres geben.
    48.
    Das erste Vorspiel.
    Der letzte Ton ist längst verklungen. Hinter dem Flügel verschanzt sitze ich da, die Hände im Schoß.
    In meiner Linken zieht die Narbe am kleinen Finger, verkürzt und verkrümmt seine Glieder. Ihre weiße, knotige Linie verzieht das Fleisch. Das Narbengewebegarn, mit dem mich mein Körper vernäht hat, ist steif und dick. Fett und wulstig durchkreuzt die Naht den Bauch meiner Hand. Wie eine Mauer, die teilt und trennt. Eine Grenze, deren Todesstreifen vom Mittelfinger bis zur Handkante reicht, wo alles spannt und zieht und nichts mehr so ist, wie es war.
    Ein warmes, ziependes, leicht krampfiges Gefühl flutet meine Handfläche. Kein brennender Schmerz, nein. Die Unerträglichkeit liegt vielmehr darin, eine Stelle, ein Körperteil, das eigentlich schweigen sollte, permanent spüren zu müssen. Finger, Narbe und Handfläche plagen mich unentwegt mit einer perfiden Mischung aus Juckreiz und Fremdkörpergefühl. Die Linke ist der Kiesel in meinem Schuh, die Erbse unter den Matratzen.
    Vorsichtig knete ich die Narbe mit dem Daumen, massiere die Handfläche. Anschließend glätte ich das Gelenk und die Sehnen meines krummen kleinen Fingers. Selbstständig kann er das nicht mehr. Wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihn nicht strecken, kriege ihn nicht gerade. Er bleibt ein Buckliger. Ein Krüppel, mehr Kralle als Finger.
    Der Dirigent schweigt noch immer. Stumm und starr steht er da, mustert und rätselt mit seinen Augen in meinem Gesicht herum. Er wirkt unentschlossen. Zwischen uns spannt sich das Schwarz-Weiß des Flügels wie ein Schachbrett. Die Entscheidung, mit welchem Gegenzug er meine Eröffnung parieren soll, fällt ihm offenbar nicht leicht. Ich warte.
    »Bist du Linkshänder?«
    »Nein. Wieso?«
    »Hm ⁠… ich dachte nur. Die Linke schien mir zum Teil fast leichter, melodischer ⁠…«
    Mein Herz ist ein Wildpferd. Es buckelt und schlägt die Hufe gegen meine Rippen. Ich presse die Linke wie eine Zitrone und beiße mir auf die Unterlippe, um dem auf der Zunge bereitliegenden Jubelschrei den Weg zu versperren. Er weiß ja nicht, was er da sagt ⁠… Kann es nicht wissen ⁠… Ich nutze seine Schweigepause, um die Gebetsmühle hinter meiner Stirn zwei Dutzend Danke-Gotts herunterrattern zu lassen. Danke-Gott, Danke-Gott, Danke-Gott ⁠…
    »Was ist die Musik für dich?«
    Jetzt bin ich die, die schweigt. Nicht, weil ich es nicht weiß, sondern weil mir mein Wortschatz zu kümmerlich erscheint, um all das, was ich antworten will, in Begriffe verpacken zu können.
    »Die Musik ist das Meer.«
    Er lächelt. »Das MEHR oder das MEER ?«
    »Beides.«
    »Und du? Schwimmst du, oder …«
    »Nein, nein! Das Klavier ist mein Schiff.«
    »Ein Schiff? Nicht eher ein Boot oder ein Floß?«
    »Von mir aus auch das.«
    Nachdenklich legt er die Hand an die Lippen. Er spricht jetzt zögerlich. Die Pausen zwischen den Satzfetzen scheinen bedeutsamer, als die Worte selbst.
    »Was du da machst … diese Reise … mitten auf dem Ozean, ganz allein … das kann gefährlich werden.«
    »Das hab ich schon mal gehört.«
    »So? Von wem denn?«
    »Von meiner Mutter.«
    Er nickt.

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