Nachhinein
füllt meine Handfläche. Sprudelnde Wärme ertränkt einen Schmerzrest. Geschockt rapple ich mich auf. Meine Rechte hält das leblose, feucht-warme Ding wie einen toten Vogel.
»Ich … ich glaube, ich hab mich verletzt«, stammelt mein Mund.
Unter den Bäumen ist nichts zu sehen. Nacht und Schatten verschlucken das Rot. Schwindelgefühle umkreisen meinen Kopf wie kleine Windhosen. Ich stehe starr, die Augen untüchtig und voller Sternchen. JasminCelineJustine sieht was, sagt was, schreit was. Das Rauschen in meinen Ohren übertönt ihre Stimme. Sie reicht mir ihren Schal. Nachtwandlerisch, ohne die Spur eines Gedankens, umwickle ich den bewegungsunfähigen Klumpen mit dem nassen, verdreckten Wollstoff.
Der Master ist verschwunden. Wir gehen langsam.
Ich spüre mein Blut, mein kostbares Blut. Schnell ist der Schal durchtränkt. Gierig saugt die Wolle meinen Saft, berauscht sich am Rot, bis alle Fasern gesättigt sind. Im vollgesogenen Strick kann nichts mehr versickern. Eine blutige Quelle entspringt dem Stoff.
Das Zerrinnen zwischen meinen Fingern, der schmerzliche Verlust, macht mir die Knie weich. Wachsweich. Was ist geschehen?
Im gelben Lichtkreis der ersten Straßenlaterne wickle ich den Schal ab. Da ist sie, meine Hand. Der Riss verläuft zwischen Ring- und kleinem Finger. Ein rötlich-schwärzliches Klaffen spaltet, zerteilt und zerklüftet meine Handfläche in zwei Hälften. Die Handkante hängt an letzten Fetzen. Wie eine halb abgeschnittene Brotscheibe klebt sie am Handteller, droht abzufallen, abzubrechen. Bin ich es, oder ist es der Boden, der schwankt?
JasminCelineJustine schreit wieder, gestikuliert. »Zubinden! ZUBINDEN !!« Ich lasse die Wunde unter dem Schal verschwinden.
Hier reißt der Faden.
51.
Er sitzt in seinem Arbeitszimmer. Erst das dritte Klingeln dringt zu ihm durch und erinnert ihn an die Abwesenheit seiner Frau. Wo war sie doch gleich? Sie hat es erwähnt … Irgendein Termin. Elternabend? Geburtstagseinladung? Er hätte genauer hinhören sollen.
Seufzend klappt er das Buch zu, verlässt sein Arbeitszimmer und steigt über die helle Holztreppe ins Erdgeschoss hinab. Es klingelt ein viertes Mal.
Als er die Tür öffnet, sieht er zunächst nur das Nachbarskind. Ihr Gesicht ist schmutzig, die Schuhe voller Schlamm. In ihren Locken wimmelt es von braunen und grünen Tannennadeln.
Aus ihrem Gestammel wird er nicht schlau, versteht nur den Namen seiner Tochter. Er folgt dem ausgestreckten Arm der kleinen Nachbarin mit den Augen und erschrickt: In der Briefkastenecke lehnt sein Kind. Der Schmutz auf ihren Wangen ist von hellen Laufspuren durchzogen. Mit der rechten Hand umklammert sie ein blutdurchtränktes Wollbündel.
Er stürzt ihr entgegen, will sie berühren und weiß nicht wie. Was soll er tun? Soll er sie tragen? Kann sie gehen? Was ist hier passiert, was zum Teufel ist hier passiert!? Er merkt, er ist zu laut, weiß selbst, dass sein Gebrüll nicht weiterhilft.
Das Nachbarskind sinkt auf der Fußmatte in sich zusammen, heult und schluchzt und antwortet nicht. Vorsichtig wickelt er den Schal auf, sieht die zerfetzte kleine Hand, aus der noch immer Blut quillt. Brechreiz und Schwindel überfallen ihn. Er taumelt, muss sich auf den Briefkasten stützen. Nicht ohnmächtig werden, nicht ohnmächtig werden! Er zwingt sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Der Schwäche folgt ein Gefühl absoluter Klarheit. Mit der Tochter auf dem Arm hastet er zurück ins Haus, angelt den Autoschlüssel vom Brett, gemahnt sich zur Vorsicht, als er die Treppenstufen zur Garage hinabsteigt. Jetzt bloß nicht hinfallen! Behutsam legt er das Kind auf den Beifahrersitz, umrundet den Wagen und steigt ein. Unerträglich langsam öffnet sich das elektrische Garagentor.
Als er rückwärts aus der Garage schießt, sieht er das Nachbarskind auf dem Gehweg sitzen. Zeit, die Scheibe herunterzukurbeln, hat er nicht. Kurzerhand öffnet er die Wagentür und ruft ihr etwas zu.
Sie soll nach Hause gehen! Er fährt jetzt ins Krankenhaus! Während der Fahrt streift er die Hausschuhe ab. Sie sind zu groß, behindern ihn beim Kuppeln und Gas geben.
»Keine Angst … Wir fahren ins Krankenhaus … Es wird alles gut …« Er sagt das mehr zu sich selbst, als zu ihr.
Auf dem Parkplatz des 14-Nothelfer-Krankenhauses meldet sich ihre schwache, kleine Stimme. Was sagt sie? Er versteht es nicht. Das Auto lässt er offen. In Socken, die Tochter fest an die Brust gepresst, hetzt er quer über den Rasen
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