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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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riechen. »Er ist ganz nah. Ganz nah !«
    Mit angehaltenem Atem horche ich in die Dunkelheit, spüre, wie Verzweiflung und Tränen in mir aufsteigen. Wo ist er? Ich kann einfach nichts hören!
    »Oh Gott … Er kommt, er kommt! LAUF !!« Wir hetzen über den kiesigen Waldweg. Je schneller ich laufe, desto näher scheint mir die Bedrohung. Ich kann ihn spüren, den Verfolger. Er streift meine Fersen, greift nach meinem Nacken. Die Zweige der Bäume sind seine Finger. Am Wegesrand tun sich schwarze Schlünde auf. Er treibt uns weiter, immer weiter in den Wald, wie zwei hilflose Rehe. Die Flucht lässt meine Beine fliegen. Ich bin Arme und Beine, Schwung und Schub, Abdruck und Aufsatz, sonst nichts. Plötzlich schlägt JasminCelineJustine einen Haken, verlässt den Weg und verschwindet zwischen den Schatten. Ich hinterher. Das Gestrüpp ist so dicht, dass wir kaum noch vorwärtskommen.
    »Wenn wir auf dem Weg bleiben, kriegt er uns!«, schreit es neben mir.
    Fichten und Tannen zerkratzen Gesicht und Hände, ihr Wurzelwerk bringt mich zu Fall. Der Boden ist nass und schlammig. Meine Füße bleiben in Senken stecken. Dies ist der Bauch des Waldes, vollgefüllt mit Dickicht, beherrscht von absoluter Finsternis. Nie zuvor war ich so blind. Wenn wenigstens der Mond aufginge! Vielleicht ist es der Gedanke an den Mond, der mich mit einem Mal begreifen lässt, wo wir sind. Irgendwo hier muss die Kiesgrube sein …
    Schon sehe ich die grauen Hänge der stillgelegten Grube durch die Bäume schimmern. Rauschend, knackend und splitternd brechen wir durch ein letztes Gebüsch und erreichen den Kraterrand.
    Hoch über dem renaturierten Loch blinzeln irritiert die Sterne. Angestrengt kneifen sie ihre hellen Äuglein zusammen, als wollten sie überprüfen, ob der Krater tatsächlich von Menschenhand geschaffen wurde, oder nicht doch das Grab eines ihrer Meteoritenfreunde ist.
    Ich rutsche über die Abbruchkanten, lege die steilsten Stücke auf dem Hosenboden zurück. Die Lichtung schenkt mir Sehkraft: Ich kann die Umrisse vereinzelter Bäume, Büsche und Sträucher erkennen – Pionierpflanzen, die sich ihr Territorium zurückerobern.
    Wir halten uns rechts, folgen den alten Baggerspuren. Hinter meiner Stirn schlagen die ersten vernünftigen Gedanken Funken: Der Rückweg durch die Grube erspart uns Dunkel und Unter­holz ⁠… Vom Grubenausgang bis zum Waldrand ist es nicht mehr weit ⁠… Obgleich wir weiterlaufen und der Drang, über die Schulter hinweg nach einem Verfolger Ausschau zu halten, bestehen bleibt, spüre ich das langsame Abebben der Panik, den Rückzug der Flut.
    Am Grubenausgang stoppt ein hoher Metallzaun unseren Lauf.
    Scheiße!
    »Vielleicht ist irgendwo ein Tor ⁠…«
    Aber JasminCelineJustine hört mich nicht, klettert den Zaun hoch, ist fast oben. »Worauf wartest du? Komm schon!« Die Aussicht, alleine in der Grube zurückzubleiben, verscheucht all meine Bedenken. Ich klettere.
    Die engen, etwa drei Meter hohen Doppelstabmatten aus Metall krönt ein horizontal verstrebter Überhang, welcher den Zaun wie ein halbes Y aussehen lässt. Nur mit Mühe gelingt es mir, meinen Körper um das steile Ende der Stäbe zu schlängeln. Die scharfen Spitzen des Metalls ritschen, ratschen und reißen an Hose und Jacke. Endlich sitze ich oben. JasminCelineJustine neben mir. Der Zaun schwankt unter unserem Gewicht. Als das Schaukeln und Wackeln nachlässt, macht sich JasminCelineJustine an den Abstieg. Sie klettert ein kleines Stück abwärts, dann lässt sie sich fallen. Der Waldboden federt und fängt sie.
    Eben will ich ihr nachfolgen, da spüre ich, dass sich einer der Metallstäbe in meiner Jacke verfangen hat. Ich hänge fest.
    »Was ist? Komm!«
    Ich zögere, greife mit der Hand hinter mich und versuche, den Stoff loszumachen.
    »Komm!«
    Mein letzter Gedanke gilt meiner Jacke. Da, wo ich mich festhalte und aufstütze spüre ich noch ein kleines Pieksen – dann springe ich. Die Jacke, plötzlich frei, folgt mir nach. Der Arm aber bleibt zurück. Für Sekundenbruchteile hänge ich am Metall wie ein Fisch am Haken. Der Zaun pfählt meine Linke. Hilflos baumle ich vor den Stäben, während die Schwerkraft an meinen Füßen zieht. Oben und Unten mutieren zu Rössern, zwischen denen mein aufgespanntes Fleisch zerreißt. Der scharfe Stahl teilt meine Hand wie Butter, lässt erst ab, als er sie gespalten hat.
    Um die Dauer einer Wunde verzögert, kommt mir mein Arm nachgestürzt.
    Ich bin unten.
    Heißes, hitziges Dunkel

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