Nachkriegskinder
schätzungsweise 10-jährigen Jungen eigentlich eine ungewöhnliche Frage. Und dann erinnere ich mich noch, dass er sich bedeutungsvoll räusperte und dann sagte. »Weißt du, Jürgen, ich finde, das Beste ist die konstitutionelle Monarchie.« Er hatte im Kaiserreich gelebt, 1918 war er 36 Jahre alt. Diese Großeltern waren, wohl aus konservativen Gründen, gegen die Nazis gewesen, ich habe von ihnen nie irgendwelche Töne gehört, dass sie etwas aus dieser Zeit befürwortet hätten, habe nie etwas Antisemitisches von ihnen gehört. Sie haben zwar nicht viel über die NS-Zeit geredet, aber bis heute ist für mich klar: Sie hatten wirklich Distanz. Sie waren sozusagen noch unbeschädigt, 1933 waren sie schon 51 und 44 Jahre alt, die Nazis waren für sie ein Pack. Was ich nun bei mir feststelle: Anteile von Unsicherheit, die verbinde ich mit meiner Mutter, Anteile einer schwer greifbaren Angst verbinde ich mit meinem Vater, und dann Anteile einer Stabilität, die verbinde ich mit diesen Großeltern. Das war mein Glück.
|274| Nachbemerkung von Jürgen Müller-Hohagen:
✎ Bei der mit Sabine Bode vereinbarten Durchsicht dieses Interviews ging mir in besonderer Weise auf: Die Welt meiner Kindheit und Jugend war geprägt von einer Ungerührtheit, einer Herzlosigkeit, deren Wahrnehmung mich jetzt, beim Durchlesen, tief erschüttert. Das war aber nicht einfach, wie man meinen könnte und wie das häufig in psychologischen Zusammenhängen verengt gesehen wird, hauptsächlich nur auf die Welt meiner persönlichen Familie beschränkt. Nein, ich sehe vor mir auch die Nachbarschaft, die Freunde der Eltern, die Verwandten, die Lehrerinnen, Lehrer, Klassenkameraden, Religionsunterricht, Gottesdienste – als wäre nie etwas »geschehen«. Und alles ganz »normale« Leute. Die im Interview angesprochene Synagoge kam nicht vor, die Menschen, die zu ihr gehört hatten, sowieso nicht, die Kriegsgefangenenlager (eines davon in Sichtweite unserer späteren Wohnung, mitten innerhalb der Rüstungsfirma, für die mein Vater arbeitete), sie kamen nicht vor, die dort geschundenen und zu Tode gebrachten Menschen, sie kamen nicht vor.
Wenn ich auf diese Herzlosigkeit und Ungerührtheit schaue, für die jener Ort ja auch nur ein Fall von vielen ist, was beim Lesen aber in so persönlicher Gestalt vor mir aufsteigt, dann ermesse ich noch mehr als bisher die Tiefendimension dessen, was die vielen Menschen in sich tragen, die sich an mich gewandt haben wegen NS-Hintergründen in ihrem Leben. Die abgrundtiefe Herzlosigkeit, der die Verfolgten ausgesetzt waren und deren Schatten bis weit in die Nachkommenschaft reichen, ist in Dokumentationen und literarischen Berichten angeklungen, in persönlichen Begegnungen nach meiner Erfahrung allerdings eher im Schweigen oder in »nebenbei« gemachten Äußerungen (»Auch nach ganz, ganz guten Zeitzeugengesprächen bin ich tagelang innerlich erstarrt, das von damals steht dann wieder so vor mir …«). Das ist ja kaum mitteilbar. Die andere Seite aber: Wo sind die Ohren und Herzen bei den Nachkommen der ehemaligen |275| Volksgenossen, um das zu hören? Und wo ist der Blick auf die eigene Seite und die darin verborgenen Kontinuitäten zum Damals? Hier sind wir in Deutschland teilweise vorangekommen in den letzten Jahrzehnten – und doch, auf den Zustand unserer Herzen zu schauen vor diesen Hintergründen, da bleibt noch vieles … ✎
|277| Achtes Kapitel
Woher kommt Orientierung?
|279| Erinnerungen an einen liebevollen Vater
Manchmal wird Volker Herold* von der Lokalzeitung angerufen, und man stellt ihm Fragen zu Patchworkfamilien, Scheidung, überforderten Eltern. Selbst in Erziehungsfragen wurde er schon angesprochen, obwohl er Familienrichter ist und kein Pädagoge. Offenbar vertraut man auch hier seinem Urteil und der Tatsache, dass er Vater dreier halbwüchsiger Kinder ist. In der Region ist sein gesellschaftliches Engagement bekannt, daraus ist ihm Autorität erwachsen. Männer wie ihn hätte man zu früheren Zeiten als »weise« bezeichnet. Aber davon würde der Jurist nichts hören wollen, weil er völlig uneitel ist. Fest steht, über ihn ist viel Positives im Umlauf. Offenbar hat er seinen Platz im Leben gefunden und daran – so wurde mir im Laufe unseres Gesprächs klar – hat sein Vater einen maßgeblichen Anteil. Meiner Ansicht nach wird es besonders deutlich, wenn man Volker Herold selbst über seinen Vater reden lässt.
✎ Mein Vater hatte große Ohren und eine große Nase. Er
Weitere Kostenlose Bücher