Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Temperatur und Salzgehalt der hiesigen Gewässer. Grundsätzlich ist kaltes Wasser schwerer als warmes, weil es eine höhere Dichte hat. Zweitens ist salziges Wasser schwerer als süßes, weil Salz zusätzliches Gewicht mitbringt. Nun ist das Wasser des Golfstroms nicht übermäßig salzig und zudem sehr warm. Eine Milliarde Megawatt führt es mit sich, das entspricht der Produktion von 250.000 Kernkraftwerken. Darum treibt dieses Wasser oben und wir mit ihm. Langsam driften wir so bis Neufundland, haben wenig zu tun und können uns kluge Bemerkungen zuwerfen wie die, dass der Golfstrom seinen Namen eigentlich zu Unrecht trägt, weil er sein schönes warmes Wasser gar nicht aus dem Golf von Mexiko hat. Zumindest nicht nur. Der soll sich also nicht so dicke tun, der Golf. Bis auf weiteres sprechen wir vom Floridastrom. Gemächlich, mit 9 Stundenkilometern, passieren wir Cape Canaveral und halten auf Cape Hatteras zu. Um uns herum wälzen sich 50.000 Kubikkilometer tiefblaue See, das Dreißigfache sämtlicher Flüsse der Erde zusammengenommen. Unterhalb Neufundlands dann wird der Strom breiter, erheblich breiter! Jetzt endlich darf er sich Golfstrom nennen — immer noch unverdientermaßen, aber so haben es die Ozeanographen einst verfügt.
ACHTUNG: ES NÄHERT SICH VERKEHR VON LINKS
Stimmt, das ist der kalte Labradorstrom, der seitlich zu uns stößt und dem Golfstrom in die Parade fährt. Damit löst er ihn auf, besser gesagt, er unterteilt ihn in Eddies, jene kreisrunden Riesenwirbel, die von nun an Nordatlantische Drift heißen. Weiter nach Norden treiben die Wärmeinseln, in einer davon drehen wir uns mit. Nur noch 15 Kilometer schaffen wir am Tag. Die Messfühler unseres Tauchboots signalisieren, dass die See ihre gespeicherte Wärme in die Atmosphäre entlässt. Generös verteilt unser guter Eddie seine Energie an Europa, als hätte er endlos davon, und die anderen Wirbel tun es ihm gleich. Derweil fegen temperierte Westwinde über die Meeresoberfläche und lassen einen Teil des Wassers verdunsten, das kondensiert und später in Europa abregnen wird. In der Höhe von Gibraltar hat es noch reichlich gegossen, womit der Verdunstungsverlust weitgehend ausgeglichen wurde. Nun aber wird die Drift salziger, und das Wasser, mit dem wir nordwärts treiben, gewinnt an Gewicht.
Entlang der Küste Norwegens wechselt unser Strom erneut den Namen. Nun heißt die Nordatlantische Drift Norwegenstrom. Viel Wärme ist uns abhanden gekommen, doch noch transportieren wir genug davon, um Süd-Svalbard verträgliche Sommer zu bescheren. Selbst im Winter können Schiffe dank des Norwegenstroms Häfen in Spitzbergen und Murmansk anlaufen. Erstaunlich, wie lang die äquatoriale Wärme vorhält, doch ganz allmählich, so hoch im Norden, gehen uns die Reserven aus. Der Himmel bezieht sich mit grauen, eispartikeln-gesättigten Wolken. Kalt bläst der Orkan, und plötzlich müssen wir die Heizung in unserem kleinen Tauchboot anwerfen. Um uns herum wogt ein graues, zerklüftetes Gebirge. Der Wind treibt Schaum vor sich her. Auf und nieder geht es, bis wir zwischen Grönland und Nordnorwegen auf zum Bibbern kaltes Arktiswasser stoßen.
Wären Sie so freundlich, die Flasche Aquavit aus dem Kühlfach zu holen und uns einzuschenken? Region und Klima rechtfertigen, dass wir uns angemessen stärken.
BITTE ANSCHNALLEN UND DIE SEITENFENSTER SCHLIESSEN. WIR STÜRZEN AB
Im Flugzeug wäre das eine beunruhigende Auskunft. Diesen Absturz jedoch haben wir vorausgesehen. So kalt und schwer ist das Wasser des Norwegenstroms geworden, dass es sich nicht länger an der Oberfläche zu halten vermag und absackt. Über uns schwappt der Ozean zusammen. Wir sinken.
Nein, wir stürzen!
Es ist tatsächlich ein regelrechter Absturz. Hier, östlich von Grönland, fällt der Strom kaskadenartig in die Tiefe. Natürlich stürzt nicht das Meer als Ganzes ab, vielmehr suchen sich die kalten Ausläufer des Stroms geräumige Fahrstühle, so genannte Sinkschlote. Das sind Stellen von bis zu 50 Metern Durchmesser, die gar nicht einfach zu finden sind, weil Wind und Wellengang sie ständig verschieben. Auf einen Quadratkilometer Meeresfläche kommen im Schnitt zehn bis zwölf solcher Schlote, wo Wasser durch Wasser rauscht. In einem dieser Fahrstühle stecken wir nun, und rapide geht es abwärts. Rund 17 Millionen Kubikmeter Nordatlantikwasser pro Sekunde streben dem Grönländischen und Norwegischen Tiefseebecken entgegen, 20 Mal mehr, als alle Flüsse
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