Nachrichten aus einem unbekannten Universum
die offizielle geologische Zeitskala aufgenommen. Es beschreibt nun das Geschehen in der Zeit von vor 630 Millionen Jahren bis zum Beginn des Kambriums vor 542 Millionen Jahren. Außerdem bezeichnet es das Ende des Proterozoikums, des zweiten Abschnitts des Präkambriums (der erste Abschnitt ist das Archaikum, das vor 2,5 Milliarden Jahren endet). Ob der Begriff Proterozoikum allerdings noch seine Berechtigung hat, ist anzuzweifeln. Übersetzt heißt Proterozoikum nämlich »Die Zeit vor den Tieren«, was längst nicht mehr haltbar ist. Tiere gab es schon lange.
Schlussendlich bleibt ein weiteres Problem. Falls Seilachers Kreaturen wirklich nichts mit späteren Tieren zu schaffen haben, sind wir zurückgeworfen auf die Frage, wie sich diese über Nacht entwickelt haben. Denn Miss Evolution kann und konnte viel — doch Zaubern gehört nicht dazu. Darum vermuten Geologen und Paläontologen, sie habe eine biologische Bombe gezündet, und sprechen von der Kambrischen Explosion. Das heißt, viele vermuten, dass es so war. Ebenso viele sind völlig entgegengesetzter Meinung.
Wer hätte das gedacht.
Zu den Waffen!
Eigentlich hatte der Tag ganz ordentlich begonnen.
Die Sonne war strahlend über der Lagune aufgegangen und erwärmte das Wasser bis auf den Grund. Wochenlang hatten aufgeplusterte Wolkenmassen einen nicht enden wollenden Dauerregen niedergehen lassen und das kleine Flachmeer ins Trübe getaucht. Jetzt nahmen die Augen des Trilobiten viel Helligkeit wahr, die über den groben Sand irrlichterte, von den Wellen zigfach gebrochen. Für ein Wesen, das vor wenigen Millionen Jahren erst Weichtiere ohne Extremitäten und Organe abgelöst hatte, sah er bemerkenswert gut. Jedes seiner turmförmigen Augen war aus 500 einzelnen Linsen zusammengesetzt, die aneinander grenzten und ihm einen lückenlosen Rundumblick verschafften. Andere Arten seiner Spezies hatten längst nicht so schöne Augen. Bei manchen lagen die Linsen weit auseinander — wie sollte man damit ein vernünftiges Bild aufnehmen? Andere verloren ihre Augen nach einer Weile wieder oder krabbelten von vorneherein blind durchs Oberkambrium.
Da war der kleine Trilobit von ganz anderem Schlag! Eben hatte er seine alten Schalen abgestreift und stromerte nun in runderneuerter Hülle umher. Sein frischer Panzer schimmerte im einfallenden Sonnenlicht, war allerdings noch nicht ganz durchgehärtet — eher ein Grund, im Schutz der Steine zu verharren, wenn man ein weiser Trilobit war.
Aber das Licht hatte ihn hinausgelockt. Seine 15 kiemenbesetzten Beinpaare unter dem ovalen Panzer mit dem mächtigen, stachelbewehrten Kopfschild trugen ihn flink zwischen Farnen und wogenden Algenfäden hindurch. Stolz hätte er sein müssen, so viele Beinchen in so perfekter Koordination bewegen zu können, doch Stolz war eines Trilobiten Sache nicht. Dämmrige Empfindungen kennzeichneten sein Leben, allenfalls so etwas wie Wohlbefinden, meistens Furcht, fast immer Hunger. Der Hunger schlug die Furcht. Fressen konnte man nicht genug, so viel war sicher. Und etwas sagte dem kleinen Trilobiten, dass heute der Tisch reich für ihn gedeckt sei.
Seine Antennen sondierten die Lage, nahmen feinste Druckunterschiede wahr, die vom strömenden Wasser und vorbeiziehenden Lebewesen ausgesandt wurden. Der zweigeteilte Schwanzfortsatz zitterte erregt. Die Geschmackssensoren an seinen Füßchen verfolgten eine Spur, die von Delikatem kündete. Nicht weit entfernt lag etwas Längliches im Sand und rührte sich nicht. Der Trilobit verharrte, dann lief er zu dem Ding hinüber, überwältigt vom Duft. Es war ein halber Wurm — die andere Hälfte schien schon jemandem geschmeckt zu haben. Aas vom Feinsten! Nicht dass der Trilobit das Jagen scheute, aber wenn man um das zeitraubende Gelauere herumkam, lebte es sich auch nicht übel. Wie oft hatte er sich damit begnügen müssen, Sand zu filtrieren. Es wurde Zeit, die Mahlzeit zu genießen, bevor jemand auf die Idee kam, seinen Teil abhaben zu wollen.
Im Moment, da sich der kleine Trilobit zum Verzehr rüstete, verdunkelte sich der Himmel. Etwas Gewaltiges kam von oben herabgeschossen, so groß, dass es sein Sichtfeld fast vollständig ausfüllte. Zwei stachelige Greiforgane zuckten auf ihn hernieder. Der Trilobit brauchte keine Sekunde nachzudenken, was er im Übrigen auch gar nicht konnte. Seine Gene wussten, was zu tun war. Im Bruchteil eines Augenblicks, bevor die Klauen ihn packen konnten, rollte er sich zusammen. Seine vielen
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