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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Kiemen bestückte Beinchen. Walcott nannte das Tierchen »Marella splendens«, was so viel heißt wie Marella, die Prächtige. Begeistert stöberte er weiter im Gestein. Die Frau, der Sohn, die Freunde, alle mussten ran. Sie entdeckten die Überreste Tausender Lebewesen, teils komplett erhalten wie Marella splendens, teils Fragmente. Bizarres kam zum Vorschein: starrende Facettenaugen, Teile von Panzerungen, Fühler, Stacheln und Scheren, Beinsegmente und manches, das auf den ersten Blick zu keiner Tierart passen wollte.
    »Wir haben eine bemerkenswerte Gruppe phyllopoder Crustaceen gefunden«, schrieb Walcott am 31. August 1909 in sein Tagebuch. Am liebsten hätte er den Pass gar nicht mehr verlassen. Schließlich aber sah er sich gezwungen, dem zunehmend schlechter werdenden Wetter zu weichen. Erst im Sommer 1910 kehrte er zurück zu seinem »Burgess Shale«, dem Burgess-Schiefer. Er lag oberhalb der Stelle, auf die der Erdrutsch niedergegangen war. Anhand von Untersuchungen konnte Walcott nachweisen, dass die Schieferschichten zwischen 488 und 542 Millionen Jahre alt waren, also dem Kambrium entstammten, einer Zeit globaler Überflutungen, in der sich das Leben ausschließlich im Meer abgespielt hatte. Schon 1876 hatte diese Periode Walcott zu einer steilen Karriere verholfen, als er die Zugehörigkeit der Trilobiten zu den Gliederfüßern nachwies. Die Folgejahre sollten seinen Ruhm erheblich mehren: Bis 1924 trugen er und seine Helfer über 65.000 Fossilien zusammen und beschrieben über 100 Arten.
    Der Burgess-Schiefer ist heute noch eine der bedeutendsten Fundstätten für kambrische Fossilien, einsam gelegen im Yoho National Park in British Columbia, flankiert von eindrucksvollen Berggipfeln. Inzwischen wacht die UNESCO über das Gebiet; lediglich Forscher haben Zutritt. Bis zur nächsten Ansiedlung sind es 12 Kilometer. Nicht nur die harten Schalen der Organismen sind hier konserviert, sondern auch deren Weichteile. Offenbar sind sie ebenso wie die Luftmatratzen des Ediacariums unter Schlammlawinen begraben worden. Walcotts Leute stießen auf Wesen, die an Würmer und Quallen erinnerten, legten Tentakel und Darmsysteme frei, die offenbarten, woran der Besitzer sich vor seinem plötzlichen Ableben gütlich getan hatte, fanden pelzartige Hüllen und allerlei gallertiges Gequabbel. Die Tiere hatten in einem temperierten Flachmeer auf Äquatorhöhe gelebt, nahe eines riesigen Riffs. Die Rutschungen mussten sie über den Rand getragen und am unteren Riffsaum begraben haben. Um einige der Fossilien hatten sich schwärzliche Flecken gebildet, als sei unter dem hohen Druck Körperflüssigkeit ausgetreten.
    Wie es schien, war das Leben nach 3,5 Milliarden Jahren der Einzeller und primitiven Vielzeller geradezu in Komplexität und Artenvielfalt explodiert. Mit einem Wimpernschlag — erdhistorisch also innerhalb weniger Millionen Jahre — hatte eine völlig neue, hoch entwickelte Fauna das Kommando übernommen.
    Walcott wusste nichts vom Ediacarium. So musste er nicht zwischen Luftmatratzen und Tieren wählen und sich nicht in die sattsam bekannte Diskussion verstricken, deren Zeuge Sie im vorangegangenen Kapitel werden konnten. Natürlich fragte er sich, was die Welt so rapide verändert hatte, dass ganze Heerscharen von Kriegern mit Stacheln, Panzern und Zähnen plötzlich die Ozeane bevölkerten. Vorerst aber ging er daran, die Wesen aus den Schiererplatten dem bekannten Reich der Tiere zuzuordnen. Walcotts großes Verdienst besteht nicht zuletzt darin, dass er die Bedeutung der kambrischen Fauna erkannt hat — fast sämtliche Baupläne moderner Lebewesen auf unserem Planeten waren hier vertreten, wenngleich die Formen eher an Aliens denken ließen. Walcott fand für fast jedes der bizarren Wesen einen Platz im Katalog der Evolution. Nur an einigen Überbleibseln biss er sich die Zähne aus oder interpretierte sie einfach falsch. So übersah er eines der faszinierendsten Wesen, als er eine Schieferplatte mit einem — wie er vermerkte — Sammelsurium bekannter und weniger bekannter Organismen untersuchte.
    Auf den ersten Blick hatten sich da zwei Garnelen mit einem quallenartigen Ring und einem länglichen Pfannkuchen zum Plausch getroffen. Alles lag nah beieinander, so nah, dass es geradezu absurd erschien. Bei näherem Hinsehen erwiesen sich die Garnelen jedoch als höchst merkwürdig, weil sie keinerlei Spuren von Innereien aufwiesen. Der Ring schien aus gezackten Segmenten zusammengesetzt, und der

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