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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Pfannkuchen erinnerte an eine platt gewalzte Seegurke. Schließlich kapitulierte Walcott vor dem Durcheinander. Erst 50 Jahre später lüftete der britische Paläontologe Harry Whittington das Geheimnis der Schieferplatte, als er einer Eingebung folgend nicht von vier Tieren ausging, sondern von einem einzigen. Er verglich die Überreste mit weiteren Funden und rekonstruierte ein Monstrum: Der Pfannkuchen war Teil eines lang gestreckten Körpers mit flügelartigen Segmenten und einem kräftigen Schwanz. Was Walcott für Garnelen gehalten hatte, entpuppte sich als Greifapparat, zwei gewaltige, vielfach segmentierte Klauen mit gezackten Innenseiten. Auch von einer Qualle konnte keine Rede sein — vielmehr handelte es sich um ein kreisförmiges Maul mit einem rundum angeordneten, messerscharfen Schreddergebiss, in das der Gigant die Beute kraft seiner Klauen beförderte. Anomalocaris canadensis, wie Whittington das Tier nannte, maß bereits im jugendlichen Alter um die 30 Zentimeter, konnte aber mehr als zwei Meter groß werden — ein wahrer Schrecken seiner Zeit, in der 10 bis 20 Zentimeter schon als stattlich galten. Gefressen hat Anomalocaris wohl alles, was nicht bei drei unter einem Felsen verschwunden war, bevorzugt Trilobiten. Sie ahnen es schon: Niemand anderer war es, der dem kleinen Trilobiten zu Beginn des Kapitals den Tag verdarb.
    So friedlich es im Garten von Ediacara zugegangen war, so sehr hatte sich das Leben an der Schwelle zum Kambrium verändert. Es hatte sich bewaffnet. Die neue Losung hieß: fressen und gefressen werden. Von nun an war das Dasein geprägt von einem unerbittlichen Wettrüsten. Wesen wie Anomalocaris, Opabinia oder Odontogriphys panzerten sich nicht nur gegen eventuelle Angreifer, sondern entwickelten ihrerseits fürchterliche Waffen. Auch nach dem Verschwinden der kambrischen Tierwelt beziehungsweise ihrer Weiterentwicklung blieb das neue Prinzip bestehen: Frisst du mich nicht, fress’ ich dich.
    Nicht jede der kambrischen Kreaturen war ein Räuber, aber fast jede war ein Ritter, sprich in eine mehr oder minder stabile Rüstung gepackt. Ein belebter Flecken zu jener Zeit würde uns erscheinen wie ein Blick in die Gewässer eines fernen Planeten. Da glitt mit wellenförmigen Bewegungen etwas über den Sand, das einer Kreuzung aus gepanzertem Intercity und Staubsauger nicht unähnlich sah, nur dass der biegsame Schlauch, der dem runden Kopf entsprang, in einer gezackten Zange mündete, die jedem Werkzeugkasten zur Ehre gereichen würde. Gleich über dem Schlauchansatz stierten fünf Stielaugen in alle Richtungen. 1972 wurde Opabinia erst mal vollständig rekonstruiert und auf einem wissenschaftlichen Kongress vorgestellt, was zur Folge hatte, dass die Gelehrten in schallendes Gelächter ausbrachen. Ein anwesender Biologe gab der Vermutung Ausdruck, die Evolution sei bekifft gewesen, als sie Opabinia erschuf. Falsch. Mittlerweile kennen wir Miss Evolution besser und wissen, dass sie keine Drogen nimmt, sondern zu jeder Zeit Herrin der Lage ist. Sie wird Opabinia genauso lieb gehabt haben wie eine Spinne ihre Kinder. Mit anderen Worten, als der kleine gefräßige Staubsauger ausgedient hatte, wurde sein Name ohne Bedauern von der Liste gestrichen. Wir können dankbar sein: Brillen für fünf Augen würden die Krankenkassen kaum bezahlen.
    Hinter planktonischen Krebsen jagte Odontogriphys her, eine schwimmende Schuhsohle, die außer einem verblüffend weiblich geschwungenen Mund mit starren Nadelzähnen und zwei augenartigen Vertiefungen an der Unterseite nicht viel aufzuweisen hatte, abgesehen vom ungezügelten Appetit, mit dem man einander auf die Pelle zu rücken pflegte. Kelchförmige Schwämme mit hoch aufragenden Stacheln reckten sich aus dem Schlamm, die Tentakel von Xianguangia, einer Vorläuferin der Seeanemone, wiegten sich in der Tide. Dazwischen streunte ein echter Sonderling herum, wurmförmig, allerdings auf einem guten Dutzend gummiartiger Beine staksend. Vorne schien da zu sein, wo das Wesen hinlief, außerdem hob sich das erste Beinpaar zu einem zuckenden Rüsselchen empor. Obwohl das Tier keine Augen besaß, fühlte man sich ununterbrochen angestarrt: Beiderseits des Rumpfes saßen runde Strukturen, von denen man immer noch nicht definitiv weiß, ob es Muskeln oder schildartige Skleriten waren. Den Weg des Microdictyons kreuzte Maotianshania, ein winziger Wurm, dem Marella splendens auf den Fersen war, das Geweih auf Beinen. Dies frühe Krebschen konnte nämlich ganz

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