Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere (German Edition)
Spieler zu sich. Auch wenn er es möglichst zwanglos und unförmlich gestaltete, die Situation war vergleichbar mit dem Herausgeben einer Klassenarbeit, die sich jeder Schüler persönlich vom Lehrerpult abholt. Als ich an der Reihe war, versuchte ich möglichst unbeeindruckt zu wirken. Ich bezweifle, dass mir dies gelang. Ich achtete wie in Trance auf jedes einzelne Wort des Trainers, als müsste ich seine Ausführungen danach auswendig aufsagen können. Zum Glück fasste er sich kurz und machte mir unmissverständlich klar, dass er mich in der Mannschaft sieht. In mir stieg eine gewaltige Freude auf, die ich am liebsten noch vor dem Coach laut herausgeschrien hätte. Aber ich begnügte mich mit ein paar Anrufen direkt im Anschluss bei meinen Eltern und den engsten Freunden.
Dann ging alles ganz schnell. Schon am folgenden Tag reisten die aussortierten Spieler nach Hause. Wie sie dort mit ihren Taschen ein wenig verloren vor dem Hotel auf den Bus warteten, taten sie mir leid. Denn ich konnte mich nur zu leicht in ihre Lage versetzen, schließlich hätte es mich ebenso gut erwischen können. Bereits am übernächsten Tag machte ich in der Nähe von Schwerin mein erstes Länderspiel gegen Dänemark, ein weiteres gegen denselben Gegner folgte zwei Tage darauf. Von nun an durfte ich mich voller Stolz Nationalspieler nennen.
In Doha habe ich Probleme, meinen Anschlussflug zu finden. Die Flugnummer stimmt, aber Singapur? Davon wüsste ich aber. Leicht irritiert fragt mich ein älteres, liebenswürdiges Pärchen, ob ich wisse, was hier los sei. Ein Mann fällt ihnen ins Wort und klärt uns auf, dass die Maschine in Singapur aufgetankt wird, wir aus dem Flieger rausmüssen und es dann erst etwa drei Stunden später weitergeht.
Mittwochabend Ortszeit lande ich schlussendlich auf Bali. Es ist bereits dunkel. Inzwischen sind rund fünfundzwanzig Stunden vergangen, seitdem ich meine Haustür im beschaulichen Unterhaching zugezogen habe. Dafür werde ich aber auch anständig begrüßt. Im Landeanflug sehe ich neben dem Rollfeld ein paar kleine Leuchtraketen aufsteigen. Als wollte mir jemand sagen: «Willkommen auf Bali, Timo.»
Ich will mit dem Taxi nach Kuta, nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt. Aber zuvor heißt es zum ersten Mal handeln. Dieses nervige Gefeilsche sollte mich noch die ganze Reise über verfolgen. Ein guter Freund von mir war bereits zweimal für längere Zeit auf Bali, von ihm habe ich mir einige nützliche Tipps mit auf den Weg geben lassen. So lande ich einigermaßen günstig kurze Zeit später im Zentrum von Kuta, und mich trifft erst mal der Schlag. Die Stadt ist die reinste Touristenhochburg. Also genau das, was ich eigentlich meiden wollte. Hier reiht sich Geschäft an Geschäft, flankiert von zahlreichen Bars und Restaurants, in denen feierwütige Partycliquen sitzen. Und das alles im westlichen Stil. Also wenn das Bali ist, dann Prost Mahlzeit.
Am liebsten würde ich sofort auf meinem nicht vorhandenen Flip-Flop-Absatz kehrtmachen und das Weite suchen. Aber es ist schon spät, und ich brauche einen Schlafplatz. Nach langer Suche finde ich ein für balinesische Verhältnisse überteuertes Zimmer in der letzten Ecke der Hotelanlage. Waschbecken? Fehlanzeige. Toilettenspülung? Zonk. Ventilator? Zwar da, aber funktioniert ungefähr so gut wie eine Abseitsfalle mit Sammy Kuffour. Ich hole tief Luft und setze mich erst mal auf das Bett und dessen verdrecktes Laken. Es ist unfassbar heiß hier drin. Als ich anschließend ein paar Sachen aus meinem Rucksack räume, bin ich innerhalb einer Minute schweißgebadet. Raus hier. Ich habe ohnehin Hunger.
Völlig übermüdet und mit leichtem Jetlag kämpfend, schleppe ich mich in das nächste Lokal. So alleine an einem Tisch umgeben von Partyvolk fühle ich mich äußerst unwohl, und es kommen große Zweifel auf. Was mache ich hier eigentlich? Und vor allem alleine? Ich wollte das ja so, um mal für mich zu sein und Abstand bekommen zu können. Aber jetzt, in diesem Moment, frage ich mich, ob die Reise wirklich so eine gute Idee war. Ich fürchte, nicht. Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass ich doch lieber im heimischen Deutschland hätte bleiben sollen.
Die folgenden Jahre gehörte ich zum festen Stamm der Jugendnationalmannschaft Deutschlands. Zu meinem Trainer Bernd Stöber hatte ich ein außergewöhnlich gutes Verhältnis. Er legte keinen sonderlichen Wert auf die Körpergröße, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Auswahltrainern, sondern
Weitere Kostenlose Bücher