Nachsuche
los.
»Komm, Bayj. Los, an die Arbeit. Hier sind wir nur im Weg. Wir gehen jetzt endlich unser Reh suchen.«
Sie steigen ein kurzes Stück den Hang hinunter, nehmen die ursprüngliche Fährte wieder auf, gelangen nach kurzer Zeit hinauf an die Waldstraße. Gleich oberhalb davon stösst Bayj auf das verendete Tier. Es liegt unter einem Busch und ist noch warm. Das heißt, es hat den Unfall um Stunden überlebt. Sonst wäre es bei den herbstlichen Temperaturen bereits ausgekühlt.
Hablützel lobt den Hund, verspricht ihm die übliche Belohnung und leint ihn schließlich am nächsten Baum an. Als er das Reh untersucht, stellt er fest, dass es an Ort und Stelle verblutet ist. Das Becken ist an der rechten Seite stark zerschlagen und ein Hinterlauf gebrochen. Das arme Tier muss sich auf drei Läufen bis an diese Stelle geschleppt haben, wo es aus Erschöpfung verendet ist.
Hablützel beginnt, es aufzubrechen. Nach der Jagd ist das eine Beschäftigung, der er sich gerne und in Ruhe widmet. Dabei lässt er in Gedanken noch einmal den Jagdverlauf vorüberziehen. Diesmal muss es schnell gehen. Bayj erhält als Belohnung die Milz, die er sich mit einem glücklichen Aufjaulen schnappt. Danach versorgt Hans Herz, Leber und die Nieren in einem Plastikbehälter, den er immer im Rucksack hat. Er holt die Eingeweide aus der Bauchhöhle und wirft sie mit dem zerschlagenen Bein ins Gebüsch. Das ist nicht die edle Waidmannsart. Doch die Füchse, denkt er, werden in der nächsten Nacht sicher aufräumen. Er stemmt das Tier hoch und dreht es so, dass es ausbluten kann. Schließlich ist er so weit. Er wischt die blutigen Finger im Laub am Boden ab, fischt sein Handy aus dem Sack und informiert Noldi, dass Bayj das Tier gefunden, und wo es gelegen habe. Dann schultert er das Reh und macht sich an den Abstieg. Er wird es auf dem Rückweg beim Metzger vorbeibringen. Unterwegs ruft er seine Frau an.
»Du«, sagt er ohne Einleitung, »da ist eine ganz grausige Geschichte passiert. Kannst dich auf etwas gefasst machen. Wir haben nicht nur das Reh gefunden, sondern auch eine Leiche.«
Bevor seine Frau ihn mit Fragen bombardieren kann, sagt er kurz angebunden: »Ich komme jetzt und will mein Frühstück. Ich bin halb am Verhungern.«
Kaum hat Hans aufgelegt, ruft seine Frau ihre Schwester an.
»Meret«, sagt sie atemlos, »stell’ dir vor, sie haben eine Leiche gefunden, dein Noldi und mein Hans. Irgendwo im Wald. Eigentlich hat Hans nach einem angefahrenen Reh gesucht. Das wird einen Wirbel geben.«
Meret seufzt.
»Das heißt, ich kann Noldi für längere Zeit abschreiben. Und erst Pauli. Wenn der das erfährt. Seit Neuestem will er Detektiv werden.«
Betti Hablützel seufzt ebenfalls und sagt: »Zum Glück hat Hans das Reh gefunden. Sonst wäre er wieder tagelang ungenießbar gewesen. Es wird immer schlimmer mit ihm. Zum Hund ist er freundlicher als zu mir.«
Meret unterbricht sie.
»Du, da ist jemand an der Tür. Tut mir leid, ich muss aufhören. Ich melde mich.«
Einen Moment lang hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Schwester anlügt. Aber sie kennt deren Litanei und weiß, wie der Schwager sein kann. Sie weiß auch, dass die Schwester den Trick durchschaut. Sie wendet ihn nicht zum ersten Mal an. Natürlich ist niemand an der Tür. Aber im Moment hat sie andere Sorgen, als sich die Eheprobleme ihrer Schwester anzuhören.
Die Oberholzers haben vier Kinder. Die Älteste, Verena, glücklich verheiratet, hat vor zwei Monaten ihr erstes Kind geboren. Peter, der Zweitälteste, absolviert eine Banklehre in Zürich. Nur die beiden jüngeren, die sechzehnjährige Felizitas, genannt Fitzi, und der elfjährige Paul leben noch bei den Eltern. Fitzi besucht das Gymnasium in Winterthur. Sie würde gerne Krankenschwester werden. Doch Noldi, der stolze Vater, hat mit seiner Tochter Größeres im Sinn.
»Du mit deinem Kopf«, sagte er einmal, »könntest Stadtpräsidentin von Winterthur werden.«
Es war als Scherz gemeint, doch insgeheim fand er die Idee nicht so abwegig.
Um Fitzi macht sich Meret keine Gedanken. Die Tochter, die geht ihren Weg, wickelt nicht nur ihren Vater mit ihrer klugen und nüchternen Art um den Finger. Sorgen bereitet Meret ihr Jüngster. Pauli ist ein aufgewecktes Kind. Er interessiert sich für alles, nur leider nicht für die Fächer, die in der Schule gefragt sind.
Rechnen und Rechtschreiben sind ihm herzlich egal. Bei Diktaten vergisst er die Hälfte, nicht weil er es nicht kann, sondern weil es
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