Nachsuche
wütend auf Elsbeth Wehrli, nicht nur, weil sie die Mörderin ihrer Tochter ist, sondern auch, weil er sie nicht versteht, weil sie ihm den Tag vermiest und er jetzt nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Er rennt im Hof herum, bis er einen Entschluss gefasst hat. Er ruft Meret an.
»Glaubst du, du kannst unsere Brut für ein paar Stunden allein lassen?«, fragt er ohne Einleitung. »Ich lade dich auf ein Nachtessen ins National ein.«
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt sie ein wenig ängstlich zurück.
»Ja«, knurrt er. »bin ziemlich erledigt. Wäre schön, wenn jetzt eine Fee käme, die mich wieder aufrichtet. Ich kenne da eine mit einer neuen Perlenkette.«
Meret kichert.
»Bin schon unterwegs.«
»Acht-Uhr-Zug«, sagt er, »den erwischst du noch. Ich hole dich am Bahnhof ab.«
Doch aus dem Abendessen im National wird nichts, denn das Restaurant hat am Zweiten Weihnachtstag geschlossen.
Noldis Stimmung, die sich beim Anblick seiner Frau gehoben hat, droht wieder zu kippen. Er macht ein Gesicht wie ein Kind, das bei der Bescherung leer ausgegangen ist.
»Reg dich nicht auf«, sagt Meret, »dann gehen wir eben in die Krone. Die hat ohnehin mehr Gault-Millau Punkte.«
»Woher weißt du das?«, fragt er mürrisch.
»Ich bin eine Frau von Welt mit Perlenkette.«
»Lass schauen«, fordert er, »hast du sie auch um?«
Meret lacht ihm ins Gesicht.
Die Weihnachtsbeleuchtung über ihnen ist eingeschaltet, wirkt aber seltsam überholt. Dabei ist das Fest noch nicht einmal vorbei.
Meret sagt: »Jetzt werden sie bald wieder die Osterhasen hervorholen.«
In Noldi steigt die Wut wie eine Blase hoch, aus seinem Hals kommt ein Bellen, das in Lachen umschlägt. »Ich weiß nicht«, sagt er und nimmt ihren Arm, »aber mit dir auszugehen, ist doch das Größte.«
Bevor sie reif für die Krone sind, drehen sie ein paar Runden auf dem Kirchplatz. Die Luft wird merklich kälter. Da und dort glitzern bereits Eiskristalle auf dem Asphalt.
Im Hotelrestaurant sind sie die einzigen Gäste. Verloren sitzen sie im Speisesaal, und die Schritte des Kellners hallen überlaut auf dem Holzboden. Der Campari, den sie zum Apéro wollen, lässt lange auf sich warten. Als eine Serviererin ihn endlich bringt, stellt sie mit vernehmlichem Knall die Gläser auf den Tisch, ohne Zitronenschnitz und ohne etwas zum Knabbern.
»War wohl keine besonders gute Idee, das mit dem Nachtessen«, meint Noldi schon wieder erbost.
»Immerhin etwas Neues«, widerspricht seine Frau ihm trocken. »Haben wir in all den Jahren unserer Ehe noch nie gemacht.«
»Soll das ein Trost sein?«
»Nein, eine Feststellung.«
Das Essen ist nicht einmal schlecht. Sie nehmen es schweigend ein, denn in dem leeren Raum tönt jedes Wort viel zu laut.
Vor dem Nachtisch sagt Noldi endlich mit gesenkter Stimme: »Es kränkt mich, dass es Elsbeth Wehrli war. Ich komme mir zwar dabei blöd vor. In Wahrheit ist sie ein beinharter alter Knochen. Sie hat ihr Kind weggegeben und als sie es wieder findet, bringt sie es um. Für Geld.«
Meret schaut ihn an. Sie sieht sein schütteres Haar und den Bauch, den er mit den Jahren angesetzt hat. Sie liebt ihn in diesem Moment so sehr, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Sie liebt ihn, weil er nicht triumphiert. Gleichzeitig empfindet sie eine tiefe Genugtuung. Er hat den Fall gelöst, obwohl es nicht einfach war. Er hat nicht aufgegeben, sich gegen alle gestemmt, bis er die Wahrheit herausgefunden hat. Er hätte es leichter haben können.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagt sie.
Als sie zu Hause auf Zehenspitzen in den oberen Stock schleichen, springt Pauli hellwach aus seinem Zimmer und fragt: »Habt ihr sie?«
»Ja«, sagt Noldi. »Aber woher weißt du, dass es eine Sie ist?«
Mitleidig erklärt ihm sein kleiner Sohn: »Ist doch klar. Erinnere dich, sagt er eifrig. Du hast mich den Brief an die Mutter fälschen lassen. Das war wohl nur, um die Frau weichzuklopfen. Also hast du gedacht, sie ist es.«
»Ja«, sagt Noldi beeindruckt vom Scharfsinn seines Sohnes. »Stimmt. Sie ist es. Leider.«
Der Junge schaut verständnislos.
»Warum leider?«
»Sie hat ihre eigene Tochter umgebracht.«
Das rührt Pauli wenig.
Befriedigt sagt er: »Jetzt ist wenigstens der arme Kevin nicht mehr der Mörder. Er war so ein Netter.«
Damit ist die Sache für ihn aber noch nicht erledigt. Ihn beschäftigt eine mehr wissenschaftliche Frage.
»Wie ist das eigentlich. Kann jeder Mensch ein Mörder werden?«
»Ich fürchte ja«,
Weitere Kostenlose Bücher