Nachsuche
schon wie lange nicht mehr gesehen hat. Da sie aber nichts über die Tote wissen, außer dass sie nackt war, bleiben alle Überlegungen nur Geschwätz.
Der Bezirksarzt bestellt telefonisch den Leichenwagen, der die Tote ins Institut für Rechtsmedizin nach Zürich bringen soll. Es handelt sich tatsächlich um eine Frau, soviel wissen sie jetzt, untersetzt, ungefähr vierzig. Bei seiner ersten Untersuchung konnte der Doktor keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes feststellen. Aber niemand von ihnen glaubt, dass sie sich selbst ins Dornengestrüpp gestürzt hat. Fragt sich nur, wer da die Finger im Spiel hatte.
»Für solche Spekulationen«, sagt der Bezirksarzt, »ist es noch zu früh.«
Dann klettern er und der Staatsanwalt mit Noldi zur Straße hinunter. Der Staatsanwalt erzählt, dass er in den letzten zwei Wochen drei Mal ausrücken musste. »Zwei«, sagt er, »waren Selbstmörder, der Dritte ein ungeklärter Todesfall. Und jetzt noch die da. Ausgerechnet im Tösstal. Übrigens, wird jemand aus der Gegend vermisst?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Noldi.
»Also dann.«
Der Staatsanwalt winkt müde und steigt zum Doktor in den Wagen.
Der ruft Noldi zu: »Du bekommst Bericht, so schnell ich kann!«
2. Ohne Schuhe
Die Familie Oberholzer bewohnt ein Haus an der Sunnematt in Rikon. Der Ort gehört mit vier weiteren zur politischen Gemeinde Zell. In den letzten Jahren ist er mehr und mehr zu einem Schlafdorf verkommen. Arbeitsplätze gibt es kaum, seit die Spinnereien im Tösstal schließen mussten. Leute, die hier wohnen, pendeln nach Winterthur oder sogar nach Zürich. Rikon besitzt weder Kirche noch Polizeiposten, dafür einen Bahnhof. Die Eisenbahn, der sogenannte Tösstaler, ist das einzige öffentliche Verkehrsmittel, das Rikon mit dem Rest der Welt verbindet.
Als der Polizist in die Einfahrt seines Hauses biegt, ist der Vormittag schon fortgeschritten. Noldi lässt den Wagen vor der Garage stehen, in der die Familie neben den beiden Autos auch ihre Gartenzwerge, Werkzeuge, Velos und Gerümpel aufbewahrt.
Das Haus aus den frühen Fünfzigerjahren ist solide gebaut. Es besitzt ein an den Seiten weit heruntergezogenes Dach und eine kleine Treppe, die zum Eingang führt. Noldi steigt die fünf Stufen müde hinauf, öffnet die Haustüre, schließt sie hinter sich und dreht den Schlüssel. Dann atmet er ein paar Mal tief durch. Vor ihm liegt der Flur, der das Haus in zwei Hälften teilt. Auf der einen Seite befinden sich die große Küche mit Speisekammer, Dusche und WC sowie einem weiteren Raum, welcher der Familie als Garderobe dient. Die ganze andere Seite nimmt die Stube mit Blick auf den Garten ein. Sie ist lang, aber schmal. Ursprünglich waren es zwei Zimmer. Nachdem Noldi und Meret das Haus gekauft hatten, ließen sie die Wand herausbrechen und bauten eine Terrasse an.
Meret wuchs in Marthalen auf. Ihr Vater, René Bossart, war dort Bahnhofsvorstand, in der Gemeinde hoch geachtet. Er hatte einen prächtigen Schnauz und war überhaupt ein schöner Mann, groß, aufrecht, mit hellen Augen, den Kopf voller Locken, die seine Töchter von ihm geerbt haben. Seine Frau Regula dagegen war eine zarte, blasse Stadtzürcherin. Sie gebar zwei Töchter, denen sie die Namen Betti und Meret gaben, denn René Bossart war ein glühender Verehrer von Gottfried Keller. Sie führten keine besonders glückliche Ehe, aber die Kinder hielten sie zusammen, und sie waren stets freundlich zueinander. Betti, die Ältere, und die fünf Jahre jüngere Meret verbrachten eine sorglose Kindheit. Der Bahnhof Marthalen hatte damals drei Geleise. Bossart wohnte mit seiner Familie wie üblich im Bahnhofsgebäude im ersten Stock. Hinter den Geleisen besaß er einen Schrebergarten, in dem seine Frau Gemüse und Kartoffeln zog. Damals kam ein Bahnhofsvorstand zur Abfahrt eines Zuges noch aus dem Büro, setzte seine rote Mütze auf und blies ohrenbetäubend in die Trillerpfeife.
Bei Merets Geburt ereignete sich ein Unglück. Die Mutter ging mit ihrer älteren Tochter Betti in den Schrebergarten. Sie war hochschwanger und schleppte schwer an ihrem Bauch. In ihrer Mühsal ließ sie das Gartentor offen, das sie sonst wegen des Kindes immer sorgfältig geschlossen hielten. Die fünfjährige Betti spielte im Sand, während die Mutter Bohnen erntete. Plötzlich sah die Kleine ihren Vater auf der anderen Seite der Geleise. Sie ließ ihr Sandeimerchen fallen und stürzte aus dem offenen Gartentor, als gerade der Zug einfuhr. Das Kind
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