Nacht aus Rauch und Nebel
hielt Marian mich so fest, als wollte er mich niemals wieder loslassen. Als wir uns irgendwann doch wieder voneinander lösten, waren seine Wangen nass vor Tränen.
»Danke!«, murmelte er. Dann sprang er ins Wasser.
Während Marian zu seiner Schwester hinüberschwamm, um sie endlich zu befreien, und Madame Mafalda und Fluvius Grindeaut sich auf den Heimweg nach Notre-Dame machten, suchte ich die Grotte nach dem Eisernen Kanzler ab. Ich fand ihn schließlich in einer Nische am Rand des Sees. Seine Beine baumelten über dem Wasser und sein Daumen strich geistesabwesend über einen Stapel Papier, der aus seinem Rüschenhemd hervorblitzte. Er starrte auch dann noch auf die Wellen hinaus, als ich mich neben ihm niederließ. Sein Haar wurde wie eh und je von einer samtenen Schleife zusammengehalten und seine Füße steckten in hochhackigen Schnallenschuhen. Alles an ihm stammte aus einer anderen Zeit, sogar sein Gesicht. Alexander von Berg gehörte nicht mehr hierher.
»Sie haben Ihr Wort gehalten«, sagte ich und griff in meine Hosentasche. »Danke. Ohne Ihre Hilfe hätten wir es niemals geschafft.« Ich reichte ihm den schmalen Knochen seines Fingers.
Der Kanzler drehte ihn in seinen schlanken Händen. »Es ist merkwürdig«, sagte er. »Eisenheim war so lange mein Leben, meine einzige Realität, dass mir die andere Welt mittlerweile wie ein entfernter Traum vorkommt.« Er legte die Stirn in Falten. »Ich weiß noch, dass es dort Farben und Sonnenlicht gab. Aber ich habe schon vor vielen Jahren vergessen, wie es aussah.«
»Es ist schön«, sagte ich. »Hell und warm. Ganz anders als die Schattenwelt.«
»Wirklich?«
Ich nickte. »Sie könnten es sich ansehen.«
»Das werde ich. Und danach werde ich sterben.«
Ich hob die Augenbrauen. »Sterben?«, fragte ich.
»Aber ja« Er führte den Knochen für einen Moment an seine Lippen. »Hatte ich das nicht erwähnt? Wenn ich in dieser Welt einen Teil meines früheren Körpers in mir aufnehme, kann ich noch einmal wandern. Doch meine Seele wird nicht mehr nach Eisenheim zurückkehren können. Es wird enden, sobald ich einschlafe.«
»Oh«, sagte ich.
Der Kanzler zuckte mit den Achseln. »Meine Armee ist verschwunden, meine Geschichte aufgeschrieben und ich bin müde. Ich sehne mich nach Ruhe«, erklärte er.
»Ich hoffe, Sie erwischen einen besonders sonnigen Tag«, sagte ich.
»Sonne! Kaum vorzustellen, was?« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zur Decke der Grotte hinauf. »Wer sagt uns eigentlich, dass nicht Eisenheim die wirkliche Welt ist? Vielleicht liegen wir die ganze Zeit über falsch und alles andere ist ein Traum.«
»Vielleicht«, sagte ich und strich mir das Haar aus der Stirn. »Überraschen würde es mich jedenfalls nicht.«
»Mich auch nicht.« Der Kanzler, der so lange mein Feind gewesen war, lächelte. »Alles Gute, Flora.«
Er öffnete den Mund und legte den Fingerknochen auf seine Zunge, als wäre er eine Delikatesse.
Seine Gestalt verblasste.
EPILOG
»Willst du schon mal Nudeln und ein bisschen Soße?«, fragte Marian. Wir saßen auf seiner Couch und er fuchtelte mit der Kelle herum. Tomatensoße spritzte auf das Polster zwischen uns. Ich nahm ihm das Ding aus der Hand und legte es beiseite.
»Nein danke«, sagte ich und deutete auf den gedeckten Tisch. »Außerdem warten wir sowieso noch auf Linus und Wiebke.«
Marian grinste mich an. »Na gut. Aber du hast da was.« Er küsste einen Soßentropfen von meiner Nasenspitze.
»Komisch. Wo der wohl herkommt …«, murmelte ich. Wir lehnten uns in den Kissen zurück und ich kuschelte mich an Marians Brust. Die Zwillinge verspäteten sich wieder einmal. Aber das störte uns nicht. Seit wir das Nichts vor ein paar Monaten besiegt hatten, genossen wir jeden Augenblick zu zweit. Endlich konnten wir einfach nur ein Paar sein, so wie wir es uns immer gewünscht hatten. Mit den Fingerspitzen fuhr ich die Linie von Marians Schlüsselbeinen nach.
Natürlich vermisste ich meine Eltern, doch ich klammerte mich an die Worte des Mantikors, der behauptet hatte, sie wären nun in einer anderen Welt für immer vereint. Wer wusste schließlich schon, was es jenseits der Schattenwelt noch gab?
Wie es mit Eisenheim weitergehen sollte, würde sich zeigen. Inzwischen hatte sich das Nichts beinahe vom gesamten Stadtgebiet zurückgezogen. Nacht für Nacht schrumpfte es etwas mehr und die ganze Schattenwelt wartete gespannt darauf, was es noch alles freigeben würde. Besonders Amadé brannte darauf,
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