Nacht aus Rauch und Nebel
den Horizont zu erforschen. Doch das würde noch eine Weile dauern, denn genau wie Christabel und all die anderen Seelen, die nach und nach aus dem Nichts zurückkehrten, erholte sie sich nur langsam von den Strapazen der Geisterwelt und musste vorerst noch das Bett hüten.
Mich selbst sprach man nun allerorts als Schattenfürstin an. Allerdings fühlte ich mich ebenso wenig zur Herrschaft berufen wie mein Vater und spielte daher mit dem Gedanken, eine Demokratie einzurichten. Aber all das hatte noch Zeit.
Jetzt atmete ich erst einmal den Geruch von Holz und Erde und lauschte auf Marians Herzschlag, während er mit meinem Haar spielte. »Was hältst du davon, wenn wir in den Sommerferien zusammen wegfahren?«, fragte ich nach einer Weile.
»Klar, wohin willst du denn? Nach Disneyland? Oder mit dem Rucksack in die Anden?«
»Ich hatte eigentlich eher an Finnland gedacht. Dann könntest du mir deine Heimat zeigen.«
»Eigentlich würde ich am liebsten ein wenig Sonne …«, begann Marian und ich wollte ihn schon darauf hinweisen, dass er sich wie der Eiserne Kanzler anhörte, als Ylva (nach gefühlten Stunden, die sie dort verbracht hatte) zusammen mit einer Parfümwolke aus dem Bad trat.
»Kann ich so gehen?«, rief sie. Sie trug ein enges Glitzertop und dunklen Lidschatten. Das Haar hatte sie sich zu einer wilden Lockenmähne frisiert.
Marian und ich zeigten ihr unsere gereckten Daumen und sie strahlte. »Cool, dann bis morgen früh«, verabschiedete sie sich in die Disco und stakste auf High Heels ins Treppenhaus hinaus. Seit sie ihre Monsterseele und die vielen Lagen aus gestrickter Wolle abgelegt hatte, war sie kaum noch wiederzuerkennen. Ylva hatte sich zu einer regelrechten Partymaus entwickelt.
Marian sah seiner Schwester nach und lächelte in sich hinein. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Endlich konnte Ylva ihr Leben genießen. Endlich war sie frei.
»Manchmal denke ich, dass sich der Eiserne Kanzler ganz ähnlich wie sie gefühlt haben muss, als er zurückkehrte«, sagte ich, als ihre Schritte verklungen waren.
»Ja?«
»Ist er nicht auch zuerst bei einer Hochzeitsfeier hereingeplatzt und hat sich auf das Buffet gestürzt?«
»Das erzählt man sich jedenfalls.« Marian grinste, wohl beim Gedanken an den neuerdings so außerordentlichen Appetit seiner Schwester. »Ja, okay, das kommt schon hin. Aber Ylva würde sich niemals nackt mitten auf eine Kreuzung stellen, nur um jeden Sonnenstrahl zu fühlen.«
»Warten wir’s ab«, murmelte ich in seine Halsbeuge. »Vielleicht tut sie es noch und lässt dann am Abend ebenfalls ein Manuskript über eine mysteriöse Schattenwelt zurück, die nun von allen für ein Märchen gehalten wird.«
Marian küsste meine Schläfe. »Ist Eisenheim etwa kein Märchen?«
Weitere Kostenlose Bücher