Nacht aus Rauch und Nebel
saß in seinem Lehnsessel. Er trug noch immer seinen Goldfisch-Pyjama, seine Wangen wirkten matt und eingefallen und bildeten einen erschreckenden Kontrast zu Christabel, die ihr Gesicht bereits unter einer Schicht grellen Make-ups verborgen und sich die feuerrote Dauerwelle zu einer Tolle geföhnt hatte.
»Guten Morgen, Engelchen«, sagte Christabel und klopfte neben sich auf das Polster der Couch. »Setz dich zu uns.«
Erschöpft sank ich in die Kissen. Eine Weile lang sagte niemand etwas. Alle drei starrten wir in unsere Kaffeebecher, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt. »Und?«, fragte ich. »Was sollen wir jetzt tun?«
Der Schattenfürst wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Wenn wir das nur wüssten.«
Wieder schwiegen wir, während mein Vater mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel massierte und die Fische in den Aquarien an der Wand hinter ihm sich eine Balgerei um die Futterfitzelchen lieferten, die an der Oberfläche trieben.
»Ich werde mich so rasch wie möglich mit meinem Kanzler darüber beratschlagen.«
Abrupt stand ich auf. Natürlich, der Kanzler! Obwohl ich meinem Vater wieder und wieder zu erklären versucht hatte, was der Kanzler wirklich im Schilde führte, dass es ihm einzig und allein um den Weißen Löwen und sein Portal in die reale Welt ging … Mein Vater wollte es anscheinend nicht verstehen. Schon seit Monaten stieß ich auf taube Ohren, wann immer ich das Thema anschnitt. Also versuchte ich es gar nicht mehr. »Ich muss zur Schule«, sagte ich deshalb nur und überließ die beiden ihren Grübeleien.
In der Diele schnappte ich mir Schal, Jacke und Rucksack und trat kurz darauf in den nasskalten Morgen hinaus. Doch statt mich über die Blindheit meines Vaters zu ärgern, wanderten meine Gedanken, wie so oft in letzter Zeit und ohne dass ich es verhindern konnte, zu jemand anderem: Marian. Seit er sich eine eigene Wohnung gesucht und sein Biomedizinstudium angefangen hatte, sahen wir uns tagsüber kaum noch. Höchstens mal, wenn es um eine Wachablösung bei den Zwillingen ging, so wie gestern. Doch auch in den Nächten war es kaum besser. Zwar nahmen wir beide nach wie vor am Dämmerungstraining teil, doch selbst das versäumte Marian in letzter Zeit immer häufiger, um seine Schwester in den Minen zu besuchen oder vielleicht auch schlicht, weil er mir aus dem Weg gehen wollte …
Doch heute würde es anders sein, das hatte ich schon vor Wochen beschlossen. Ich hielt dem Busfahrer mein Ticket unter die Nase und ließ mich in einen der staubigen Sitze plumpsen.
In der Schule fehlte Wiebke noch immer wegen ihrer Windpocken. Die beiden Doppelstunden Mathe und Englisch brachte ich trotzdem irgendwie hinter mich. Nicht dass ich etwas vom Unterricht mitbekommen hätte, aber es gelang mir zumindest, den Anschein zu erwecken, ich würde zuhören, während ich in Wahrheit gegen meine bleierne Müdigkeit kämpfte. In der darauffolgenden Kunststunde wurde es dann schon kritischer. Tatsächlich döste ich einmal beinahe über meinen Acrylfarben ein und fand mich einen Augenblick später mit der Wange auf der frisch bepinselten roten Leinwand wieder. Meine linke Gesichtshälfte hatte glücklicherweise einen einigermaßen ansprechenden Abdruck hinterlassen, der meiner Kunstlehrerin so gut gefiel, dass ich so tat, als wäre es Absicht gewesen. Bis zum Mittag verlief der Tag also eigentlich ganz gut. Ich wurde für mein Bild gelobt! Ich, die sonst um jeden geraden Strich rang und nicht einmal die Grundregeln der Farbenlehre beherrschte.
Dann kam die Deutschstunde.
Und mit ihr das Desaster.
Herr Bachmann hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, mal wieder eine seiner angestaubten Literaturverfilmungen zu zeigen. Welche, bekam ich leider schon nicht mehr mit, denn sobald er den Klassenraum verdunkelte, war es um meine Selbstbeherrschung geschehen. Mein Kopf sackte auf die Brust, dann war ich weg.
In der nächsten Sekunde erwachte ich in einem Himmelbett mit mottenzerfressenen Vorhängen unter einer Decke aus muffiger Spitze. Natürlich war auch mein Zimmer im Schattenpendant des Buckingham-Palastes vollkommen farblos. Graue Tapeten schälten sich von grauen Wänden, auf die das weißliche Licht des Kronleuchters hellgraue Muster zeichnete. Bis auf wenige Räume war das ehemals prunkvolle Gebäude eine Bruchbude. Schon lange hatte mein Vater es aufgegeben, sich um seinen Wohnsitz in Eisenheim zu kümmern. Überall hingen Spinnweben und Staub, an etlichen Stellen
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