Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
verteilen!» Seine Stimme klang heiser.
«Mein Gott!», murmelte Rosa Perl. Sie war neben Katharina die Älteste in der Gruppe. Etwas über fünfzig, sehr groß, dünn, knochig. «Ich hatte einen fürchterlichen Traum. Lauter schwarze Särge habe ich gesehen, und ich selbst lag auch in einem. Dieses Bett mit den vier Säulen und dieser schwarze Schrank in meinem Zimmer … ich kann da nicht mehr schlafen. Für mich sind das alles Särge …!»
Katharina legte Rosa eine Hand auf den Arm.
«Ist gut, Rosa. Darüber reden wir später. Du musst nicht in diesem Zimmer bleiben.»
Sie versammelten sich im weiten Hof, der inzwischen in sanftem Sonnenlicht lag, und schwärmten in unterschiedliche Richtungen aus, durchkämmten den winzigen Friedhof der Mönche, der wie alle verlassenen Plätze von Brombeeren erobert worden war, das verfallene Bauernhaus im Westen der Abbadia, die nahen Wäldchen und das ausgewaschene Bachbett im Tal.
Es war Rosa, die gegen zehn Uhr den leblosen Körper der jungen Frau in der Wurzelhöhle entdeckte. Sie war den Stiefelabdrücken im feuchten Sand gefolgt. Mit klopfendem Herzen und dunklen Ahnungen. Als sie die Tote erspähte, erschrak sie, fühlte aber gleichzeitig eine merkwürdige Erleichterung, fast so etwas wie einen leisen Triumph. Vielleicht waren ihre Albträume Vorboten dieses Todes gewesen und nicht ihres eigenen, den sie so sehr fürchtete und der sich wie ein schwarzer Mantel um sie zu schließen schien, seit sie in der Abbadia wohnte.
Ehe sie Carolin berührte, fasste sie an die Narbe über ihrer linken Brust. Den Tod, der in ihr selbst lauerte, würde sie vertreiben. Sie wollte alles tun, was sie sich bisher versagt hatte. Alles!
Erst danach wurde sie von dem Schock erfasst. Sie kniete im Sand, hielt die Hand der jungen Frau und begann mit ihr zu reden, als wäre sie noch am Leben.
«Du kannst nicht einfach so weggehen, Carolin! Das Leben ist viel zu wichtig, verstehst du? Du musst durchhalten! Schau mich an, ich halte auch durch!» In heftigem Schluchzen brach sich ihre Verzweiflung Bahn, schüttelte ihren hageren Körper. «Ich hätte es dir früher sagen sollen, meine Kleine! Aber ich hab es selbst nicht gewusst! Es tut mir so Leid, verstehst du?»
Rosa kniete lang neben der Toten, erwachte nur langsam aus diesem seltsamen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Erst als sie Katharina rufen hörte, fasste sie sich, stand noch einen Augenblick benommen da, begriff dann, was geschehen war, und schrie.
C ommissario Angelo Guerrini von der Questura in Siena hätte beinahe das unscheinbare Schild übersehen, das an der Straße zwischen Buonconvento und Montalcino den Weg zur Abbadia anzeigte. Er bremste scharf, bog dann nach rechts ab und folgte mit seinem dunkelblauen Lancia dem schmalen Feldweg. Er fuhr sehr langsam, genoss die Landschaft. Kleine Wäldchen aus Edelkastanien, Pinien und Steineichen, weite Hügel, bereits abgeerntet, hin und wieder ein Bauernhof. Ein Teil der Felder war schon wieder gepflügt, und die riesigen Erdbrocken dörrten in der Sonne vor sich hin.
Guerrini ließ das Seitenfenster herunter, um die Geräusche und Gerüche hereinzulassen. Eine Schar Hühner nahm mitten auf dem Weg ein Sandbad, flüchtete gackernd und flügelschlagend vor seinem Wagen. Ein Hund zerrte an seiner Kette, bellte halb erstickt. Eine Frau spähte durch die grünen Plastikschnüre eines Fliegenvorhangs. Guerrini nahm den Duft eines Feigenbaums wahr, dann Rosmarin und Piniennadeln.
Er war froh, seinem engen, dunklen Büro in der Questura entkommen zu sein, der Hitze und dem Gedränge in den Gassen von Siena, die um diese Jahreszeit von Urlaubern überquollen.
Manchmal, dachte er, manchmal sind auch deutsche Touristen ganz nützlich. Und er lächelte über seine eigene Boshaftigkeit, denn immerhin handelte es sich bei seinem Ausflug um eine tote deutsche Touristin.
Aus dem Anruf der Carabinieri von Montalcino war er nicht ganz klug geworden. Es ging um eine Gruppe Deutscher, die in dem ehemaligen Kloster wohnten. Was sie dort machten, wussten die Kollegen auch nicht. Nur dass eine junge Frau tot in einem Bachbett gefunden wurde und dass es nicht nach einem natürlichen Tod aussah. Die Kollegen hatten Verständigungsschwierigkeiten. Er selbst würde sie auch haben. Über sein bisschen Englisch war er nie hinausgekommen.
Guerrini warf einen schnellen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb eins. Mittagshitze. Zikadengeschnarr. Als die Klostergebäude plötzlich vor ihm
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