Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
nie zuvor gesehen. War von den Gefühlsausbrüchen der jungen Frau regelrecht überrollt worden. Vielleicht war es ein Fehler, so intensiv mit den Menschen zu arbeiten. Vielleicht war all das ein Irrtum. Niemand konnte wissen, welche Ungeheuer in den Menschen schlummerten, und sie, Katharina, erlaubte es diesen Ungeheuern ans Tageslicht zu kriechen, öffnete ihnen auch noch die Tür.
Bisher, dachte sie, habe ich sie einigermaßen bändigen können, diese Ungeheuer. Aber vielleicht habe ich keine Kraft mehr? Vielleicht habe ich zu viele Abgründe gesehen? Entsetzt dachte sie an die Möglichkeit, dass Carolin sich umgebracht haben könnte. Wie sollte sie selbst, Katharina, das ertragen? Wie die Gruppe durch so eine Katastrophe führen? Die anderen würden ihr die Verantwortung zuschieben. Sie war die Therapeutin. Das Vertrauen wäre zerstört. Es könnte sogar das Ende ihrer beruflichen Möglichkeiten bedeuten.
Katharinas Schultern sanken nach vorn. Sie krümmte sich, stöhnte erneut auf. Warum nur hatte sie keinen zweiten Therapeuten mitgenommen? Warum war sie nicht in der Lage, mit anderen zusammenzuarbeiten? Sie hatte es ein paar Mal versucht, aber es hatte nie geklappt. Warum nur? War sie selbstherrlich? Fand sie ihre Methode so einmalig, dass sie glaubte, niemand könne es ihr gleichtun? Immer hatte es Konflikte gegeben. Die anderen waren zu oberflächlich, sahen nie die tiefere Dimension, die sie selbst beinahe körperlich spüren konnte. Es ging nicht, ging einfach nicht!
Katharina hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen, die rot hinter den Hügeln aufstieg. Immer hatte die aufgehende Sonne ihr Kraft gegeben, deshalb schickte sie ihre Klienten jeden Morgen bei Sonnenaufgang hinaus. Der neue Tag bedeutete neues Leben, Kraft, kosmische Energie. Das brauchten sie alle. Jeden Morgen wurde die Erde neu geboren und mit ihr jedes menschliche Wesen. Und vor allem all jene, die weder ihren Körper noch ihre Seele spüren konnten. Und das waren nach Katharinas Erfahrung die meisten Menschen.
Welch tiefe Befriedigung, wenn der Glanz kosmischer Energien sich in den Gesichtern ihrer Klienten widerspiegelte. Wenn sie Dinge zu denken und zu tun wagten, die sie nie zuvor geahnt hatten. Sie empfand sich als Lehrmeisterin, nicht so sehr als Therapeutin. Sie lehrte, dass abgespaltenes Böses das Gute, unbewusster Hass die Liebe verhindert. Erst wenn die schwarzen Vögel in jedem Herzen freigelassen wurden, konnten die Schmetterlinge des Lebens zu tanzen beginnen. Aber die schwarzen Vögel mussten gebändigt werden und fortfliegen. Und in diesem Augenblick, angesichts dieses wunderbaren neuen Tages, zweifelte Katharina daran, dass sie die Kraft hatte, die schwarzen Vögel einzufangen, die seit Tagen die Abbadia bevölkerten. Es waren zu viele. Einige schienen aus den Mauern selbst zu kommen, als hätten sie nur darauf gewartet, gerufen zu werden.
Katharina schüttelte leicht den Kopf. Sie brauchte dringend eine Supervision. Doch damit würde sie noch eine Weile warten müssen. Die Selbsterfahrungsgruppe dauerte weitere zehn lange Tage. Plötzlich graute ihr davor. Über drei der Klienten schien sie keine Macht zu haben. Carolin gehörte dazu, dann dieser Rolf Berger, der ständig in Tränen ausbrach und heftige Aggressionen in ihr auslöste. Auch Susanne war ein Problem, kommentierte in den Sitzungen stets die anderen und spielte sich selbst als Therapeutin auf. Über sich selbst sprach sie fast nie, beobachtete nur die anderen, voyeuristisch, mit einem beinahe gierigen Gesichtsausdruck. Etwas ging in der Gruppe vor, das Katharina nicht benennen konnte, und dieses Etwas machte ihr Angst.
Wieder schüttelte sie den Kopf und sah Hilfe suchend zur Sonne hinüber. Vielleicht war Carolin eine Nacht draußen geblieben, um die Stille zu erleben. Vielleicht hatte sie den Mond beobachtet und die Tiere belauscht. Vielleicht würde sie gleich vom Tal heraufkommen und sich mit ihnen an den Frühstückstisch auf der großen Veranda setzen.
Aber Carolin kam nicht. Eine Stunde später kehrte Katharina zu den anderen zurück, die unruhig und verloren an der langen Tafel saßen, Milchkaffee aus großen Tassen schlürften und ihr erwartungsvoll entgegensahen.
«Wir müssen nach ihr suchen!», sagte Katharina leise. «Ich denke, dass sie hier in der Nähe ist.»
Die anderen nickten. Rolf Berger, ein großer magerer Mann Mitte dreißig, dessen Gesicht seltsam weich und unkonturiert wirkte, sprang als Erster auf.
«Wir müssen uns
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