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Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Titel: Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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dass der Morgen dämmerte, riss sich los – von der stillen Frau und den schwarzen Wurzeln –, taumelte aus der Höhle, durchs Bachbett und stürzte sich wieder in den Dschungel aus Dornen und Büschen. Die Stachelschweine stoben davon, und ihre Schreckenslaute, die dem Weinen kleiner Kinder glichen, begleiteten ihn auf seiner Flucht.
    Später, als die Sonne aufging und er die Felder in der Nähe des Hofs seiner Mutter erreicht hatte, setzte er sich auf einen riesigen harten Erdbrocken und stützte den Kopf in die Hände. Er wusste nicht, was mit der Frau passiert war. Wusste nicht, ob es etwas mit ihm zu tun hatte. Vielleicht war es einer dieser Träume, die er hatte. Denn jetzt fiel ihm ein, dass er die Frau schon vorher gesehen hatte. Sie war eine jener Frauen, die seit einer Woche im Wald und in den Feldern herumliefen. Meistens ganz früh am Morgen und immer allein. Er hatte sie beobachtet, diese Frauen. Heimlich, wie er es immer tat. Es waren Fremde. Sie hatten seltsame Dinge getan – die Arme zum Himmel gestreckt, den Boden berührt oder die Rinde der Bäume. Ab und zu hoben sie etwas auf – eine Feder, einen Stein oder die Borsten eines Stachelschweins.
    Giuseppe wiegte seinen Körper hin und her und begann leise zu singen.

D ie Abbadia ragte hoch über die Felder und Wäldchen der Crete, jener weiten hügeligen Landschaft südlich von Siena. Zwei lang gestreckte Wohntrakte bildeten einen rechten Winkel, die Kirche klebte an dem westlichen Flügel, als gehörte sie nicht recht dazu. Einen Turm gab es nicht mehr. Irgendwann hatte es einen dritten Trakt gegeben, doch der war wohl in den Kriegswirren, die seit der Renaissance die Toskana heimgesucht hatten, zerstört worden. Nur ein paar Mauerreste, Säulen, die ein Gewölbe ahnen ließen, waren übrig geblieben. Brombeersträucher überwucherten den ehemaligen Klostergarten, ockerfarbener Putz löste sich in großen Stücken von den Wänden, und an der Südseite lebten unzählige Vipern in den Ritzen der schiefen, niedrigen Mauer, die das alte Kloster umschloss.
    Gleich hinter den Gebäuden fiel der Hügel nach Norden steil ab. Macchia, Pinien und Brombeeren wuchsen wild durcheinander und bildeten einen natürlichen Schutzwall. Auf der anderen, der offenen Seite des Anwesens  erstreckte sich eine flache Hochebene, die mit Wein bepflanzt war und bis zu den fernen Hügeln im Süden reichte.
    Verschlafene Katzen schlenderten über den rechteckigen Innenhof zwischen den Gebäuden, blieben hin und wieder mit zuckenden Schwanzspitzen stehen, warfen sich unvermutet auf den Rücken und wanden sich im feinen Sand. Wildtauben saßen auf den blassroten Dachziegeln, gurrten mit geblähten Kröpfen im ersten Morgenlicht.
    Eine Frau trat aus der Tür des südlichen Gebäudetrakts, gleich neben der einzigen öffentlichen Telefonzelle im Umkreis von zwanzig Kilometern. Ihr graues Haar fiel in wirren Strähnen bis auf die Schultern. Das hellblaue Jeanshemd und die weiten hellen Hosen waren zerknittert wie ein Schlafanzug. Sie schloss die Augen zu schmalen Schlitzen, als bereite das erste Tageslicht ihr Schmerzen, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und atmete tief ein. Dann richtete sie sich sehr gerade auf und ging schnell ums Haus herum zu der Mauer aus flachen Steinen, hockte sich mit gekreuzten Beinen auf eine breite Felsplatte und suchte mit ihren Augen die Hügel und Täler ab.
    Katharina Sternheim war nicht mehr jung, doch ihre Augen besaßen die Klarheit und Lebhaftigkeit eines Mädchens. Nach einer Weile senkte sie den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus.
    Ich hätte nicht herkommen dürfen, dachte sie. Ich habe gewusst, dass dieser Ort gefährliche Kräfte besitzt. Warum habe ich nicht auf meine Erfahrung gehört? Ich bin verantwortlich für diese Gruppe, und ich kann nichts tun. Es geschieht einfach – genau wie beim letzten Mal. Es zerreißt die Menschen und mich auch. Ich kann es einfach nicht steuern.
    Ihr Gesicht, das eben noch jung und glatt ausgesehen hatte, verfiel plötzlich. Sie fühlte sich alt und müde. Eine unbestimmte Angst stieg von ihrem Magen auf, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, ließ ihre Hände zittern.
    Carolin, die jüngste der Selbsterfahrungsgruppe, war nicht von ihrem Abendspaziergang zurückgekehrt. Katharina wusste, dass die Studentin gefährdet war, bedroht von Wut und Angst, von Depression und Panik. Wie sollte sie als Therapeutin diese Kräfte in der Hand behalten – nach nur einer Woche? Sie hatte Carolin noch

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