Nacht des Ketzers
Guiseppe hatte hastig ein Hemd aus seinem Ranzen gezogen und versuchte, sich das Tuch, so gut es ging, vor Mund und Nase zu halten. In der Aufregung übersah er dabei, dass seine Kutte auf die mit Unrat verschmutzte Gasse fiel. Stockfinstere Nacht hatte sich mittlerweile breitgemacht. Nur selten waren Laternen angezündet, so dass er immer wieder Gefahr lief, über einen leblosen Körper oder einen in hastiger Eile zurückgelassenen Gegenstand zu stolpern. In einiger Entfernung sah man bereits die Türme der Klosterkapelle. Wie ein magisches Licht leuchtete eine Laterne über dem großen, mit Stuck und allerlei Figuren geschmückten Eingangstor des Klosters, zog ihn förmlich an, so dass er alles Elend um sich herum vergaß. Er sah, dass Giordano rasch sein Ordenskleid überwarf und dass die drei durch eine kleine, in das massive Tor eingelassene Tür hinter den Mauern verschwanden. Guiseppe klopfte, erst behutsam, dann immer heftiger.
„Lass mich eintreten, Bruder“, rief er durch eine kleine, in Augenhöhe angebrachte Luke. Er konnte in der Finsternis kein Gesicht erkennen. „Ich bin Dominikaner wie du.“
„Tut mir leid, ich habe strenge Anweisung, nur Mitbrüder einzulassen.“
„Aber ich bin doch …“ Erst jetzt wurde Guiseppe klar, dass er ohne sein Ordenskleid natürlich nicht als Mönch zu erkennen war. Auch die Tonsur war unter dem langen Haar kaum mehr zu sehen. Hastig kramte er in seinem Ranzen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Das konnte nicht sein. Wo war sein Ordenskleid? Verschwunden. Verloren. Irgendwo in der Eile eines Aufbruchs liegengeblieben. Er zitterte am ganzen Leib.
„Ich flehe dich an im Namen der Mutter Gottes, ich bin Mönch aus dem Kloster San Domenico Maggiore in Neapel, so lass mich doch eintreten.“
„Es tut mir leid, die halbe Stadt versucht, hier bei uns Zuflucht zu finden. Wir sind jetzt schon übervoll.“
Schmerzlich hallte das Klicken der kleinen Luke in Guiseppes Ohr, als sie wieder verschlossen wurde. Er spürte Tränen aufsteigen. Tränen der Wut darüber, dass er so ungeschickt gewesen war, sein Ordenskleid zu verlieren, und dass er nun von seinen Mitbrüdern nicht ins Kloster gelassen wurde, und Tränen der Angst, allein in der pestverseuchten Stadt ausharren zu müssen. Erschöpft rutschte er mit dem Rücken die Klostermauer entlang zu Boden. Was sollte er tun? Die Stadttore waren bestimmt schon geschlossen. Herberge oder Gastwirtschaft hatte er keine gesehen, und die Bürger der Stadt würden einem Fremden, noch dazu in der Nacht, ganz sicher nicht die Tür öffnen und ihm gar eine Schlafgelegenheit anbieten. Hinter der Wolkendecke lugte für kurze Zeit die Sichel des Mondes hervor. Zwei Ratten huschten aus einer Maueröffnung, verschwanden aber gleich darauf wieder in einer Spalte. Guiseppe wusste nicht, wie lange er an der Klostermauer mehr gelegen als gesessen hatte. Die beiden Ratten waren wieder aufgetaucht, nun näherten sie sich ihm vorsichtig schnuppernd. Er ahnte, dass es der Käse und die Wurst in seinem Ranzen waren, die die Tiere anlockten. Stocksteif saß er da, nur noch etwa ein halber Meter trennte seine große Zehe vor der Berührung mit der mutigeren der beiden Ratten. Vorsichtig umklammerte er mit der rechten Hand seinen Wanderstock. Dreißig Zentimeter. Zwanzig Zentimeter. Ein kräftiger Hieb. Die Ratte zuckte wild auf dem Rücken liegend und stieß Schreie aus, die an ein neugeborenes Kind erinnerten.
Guiseppe zwang sich aufzustehen. Noch einmal versetzte er der immer noch zuckenden Ratte einen Schlag, dann war Stille. Die Kerze in der Laterne über dem Klostertor war erloschen. Zum Glück zerfetzte der Wind die Wolken immer mehr, riss große Löcher in sie hinein, die dem Mond Platz ließen, die vom Tod heimgesuchte Stadt notdürftig zu beleuchten. Wohin sollte er gehen? Nach rechts? Nach links? Geradeaus? Egal. Er entschied sich für eine breitere Gasse in Richtung Prato della Valle. Vorbei an der Basilika des heiligen Antonius. Guiseppe kannte die Legende, dass der Heilige, so wie sein Glaubensbruder Franz von Assisi zu den Vögeln, seine Predigt an die Fische gerichtet hatte, die ihm andächtig zugehört hatten.
Nirgendwo sah Guiseppe eine geöffnete Tür, nur ein paar Straßen weiter nahe der Universität hörte er verhalten das Weinen einer Frau. Vorsichtig näherte er sich dem Haus, aus dem das Wehklagen kam. Die Tür war nur angelehnt, dahinter sah er im Kerzenschein die Frau, wie sie sich vergeblich mühte, einen leblosen
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