Nacht des Ketzers
er gemeinsam mit den Calvinisten auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
Die steinige Landschaft änderte sich, als Giordano in die sumpfige Po-Ebene kam. Tausende und Abertausende von Stechmücken tanzten in der Luft. Überall leuchtendes Grün, durchbrochen von roten Mohnblüten. Giordano konnte sich nicht sattsehen. Er pflückte ein paar junge Maiskolben, die man roh essen konnte. Die Pflanze war erst etwa fünfzig Jahre zuvor von Seefahrern aus der Neuen Welt nach Europa gebracht worden und erfreute sich innerhalb kürzester Zeit großer Beliebtheit. Hier, links und rechts an den fruchtbaren Ufern des Pos, gedieh der Mais prächtig. In der Ferne konnte man die bizarre Silhouette der Alpen erkennen. Wolkentürme bauten sich auf. Satte Farben lösten die verdorrten Weiden des Südens ab. Mit jedem Kilometer, der Giordano weg vom Zentrum der Ignoranz und der Intoleranz gegenüber dem freien Denken brachte, wurde er heiterer. Er fühlte sich wie einer der jungen Raubvögel, die er früher an den Hängen des Monte Cicala beobachtet hatte. Am Wegesrand leuchtete etwas Weißes, fast Durchsichtiges. Vorsichtig stupste er es mit seinem Wanderstab an. Es rührte sich nicht. Erst als Giordano sich bückte, sah er, dass es sich um die Haut einer Schlange handelte, die sich ihres alten Kleides entledigt hatte, um für einen neuen Lebensabschnitt bereit zu sein. Die Wolken hatten sich verdunkelt. Erste Tropfen fielen. Die Luft ohnedies schon sehr feucht, dampfte nun geradezu.
Auch von der Pest waren nur noch vereinzelt Spuren zu erkennen. Zum Schutz gegen die Stechmücken hatte er sich ein feuchtes Tuch um den Nacken gewickelt. Das Ordenskleid der Dominikaner sorgte dafür, dass er nachts eine Schlafstelle bekam und auch immer wieder mit Nahrung versorgt wurde.
Protestanten. Giordano wusste eigentlich nicht so recht, was er sich darunter vorstellen sollte. Zwar hatte er schon einiges über sie gehört und manches gelesen, aber Konkretes wusste er mit dieser neuen Glaubensrichtung nicht anzufangen. Aber er hatte eine Vorstellung. Protestanten kümmerten sich um die Menschen, so dachte er. Entsagten dem Pomp, dem die katholische Kirche in Rom so sehr verfallen war. Für eine Kirche des Volkes und der freien Geister traten sie ein. In Genf würde er sich gleich in die von Calvin gegründete Akademie einschreiben und dann versuchen, endlich, endlich eine Professur zu erhalten.
Der große See lag vor ihm, erinnerte ihn an den Golf zu Hause. Am Nordufer wuchsen große Mengen von Wein. Hinter ihm lagen die schneebedeckten Berge, durch deren enge Schluchten er die letzten Tage gewandert war. Stadtmauern und Wehrtürme waren zu sehen. Der Regen wurde immer heftiger. Blitze zuckten, und das rasch darauf folgende Donnergrollen verriet die Nähe des Unwetters. Giordano beeilte sich. Seine Mönchskutte triefte. Dennoch war er gut gelaunt. Er mochte es, wenn die Natur zeigte, zu was sie imstande war. Da fühlte er sich eins mit ihr, und er spürte das Erhabene, ja Göttliche.
Genf, das Ziel seiner Wanderschaft: Dort würde er in Ruhe und Frieden leben und arbeiten können. Frohen Herzens stapfte Giordano den Uferweg entlang. Die Flucht würde hier ihr Ende finden. Bis hierher reichte der lange Arm Roms keinesfalls. Hier konnte er erstmals Ruhe finden und sich seinen philosophischen Gedanken widmen. Bücher schreiben. Vorlesungen halten.
Vor den Stadttoren baumelte eine halb verweste Leiche an einem Strick von einem dicken Eichenast. Die Krähen hackten große Fleischstücke aus dem mit Fliegen übersäten Körper. Vermutlich ein Mörder, dachte Giordano. Er hatte in den vergangenen Wochen zu viele Tote gesehen, als dass ihn dieser Anblick aus der Ruhe bringen konnte.
Als er das Stadttor durchschritt, musterten die Menschen seine Mönchskleider, die er seit seinem Aufenthalt in Padua wieder trug. Eine seltsame Leere lag in den Augen der meisten, die ihm entgegenkamen. Doch Giordano bemerkte das nicht. Viel zu sehr freute er sich, in der Hauptstadt der Reformation angekommen zu sein. Sogleich nahm er Quartier in einer Herberge unweit der Kathedrale und der Akademie. Das Gebäude des Konsistoriums, das über die Einhaltung der von Calvin ausgegebenen Glaubensrichtlinien wachte, lag nahe dem Rhone-Ufer. Hier regierte Théodore de Bèze, der Nachfolger Calvins.
Kapitel 22
Am darauffolgenden Tag machte Giordano sich auf die Suche nach dem Treffpunkt der italienischen Gemeinde. Er hatte gehört, einige seiner Landsleute, die aufgrund des
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