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Nacht des Ketzers

Nacht des Ketzers

Titel: Nacht des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Weinek
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hätte, so gäbe es für einen Mann seiner Herkunft und seines Aussehens reichlich Abwechslung in der Stadt. Die schönsten Kurtisanen, darin stimme er allerdings mit Monsieur de Montaigne überein, gäbe es jedoch nur in Italien.
    „Ihr Italiener müsst glückliche Männer sein, ihr habt die hübschesten Mädchen überhaupt.“
    Giordano konnte nur nicken, und wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er diesbezüglich über keinerlei Erfahrungen verfügte.
    „Sie verstehen sich auf ihr Handwerk, wenn Ihr wisst, was ich meine, Monsieur.“ Castelnau lächelte verschmitzt. In der Nähe von Giordanos Unterkunft trennten sich die beiden und vereinbarten, sich am nächsten Tag nach der Vorlesung wieder zu treffen.
    Giordano spürte nun die Müdigkeit in seinen Gliedern und freute sich auf eine kleine Nachmittagsruhe. Als er die Tür zu seiner Kammer öffnete, sah er einen Brief auf dem Fußboden. Jemand musste ihn durch den Türspalt geschoben haben. Leicht erregt öffnete er ihn und entspannte sich sogleich wieder. Der Brief war von Michel de Montaigne.
    „Hochverehrter Monsieur Bruno, lieber Freund! Wenn Ihr diese Zeilen lest, bin ich bereits auf dem Weg nach Bordeaux, wohin mich dringende Amtsgeschäfte treiben. Es war mir eine große Ehre, aber auch ein außerordentliches Vergnügen, einen so brillanten Geist wie den Euren kennenlernen zu dürfen. Lasst mich als den Älteren Euch einen Rat auf den weiteren Lebensweg mitgeben. Versucht, dem Leben auch die heiteren Seiten abzugewinnen. Schwer ist es von alleine. Ich bin davon überzeugt, dass in hundert, vielleicht auch erst in zweihundert Jahren die Menschen klüger sein werden als heute. Sie werden die Angst vor dem Neuen, dem Fremden verlieren, die Scheu davor, Dinge kennenzulernen, die sie nicht sogleich verstehen, und sie werden erkennen, dass Gott nicht für kriegerische Auseinandersetzungen taugt. Dass Religion niemals ein Grund sein darf, sich gegenseitig abzuschlachten. Sie werden einsehen, dass die Folter grausam und unmenschlich ist, und wer weiß, vielleicht werden sie sogar einsehen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt aller Schöpfung ist. Mein lieber Freund, ich hoffe sehr, dass sich unsere Wege in nicht allzu ferner Zukunft wieder kreuzen werden und wir bei einem guten Tropfen unsere fruchtbaren Dispute fortführen werden.
    Bis dahin bin ich Euer sehr ergebener Michel de Montaigne.“
    Giordano freute sich über die Zeilen und bedauerte zugleich, dass ihm der neu gewonnene Freund bereits wieder abhandengekommen war. Rasch entkleidete er sich, schlüpfte in sein Bett und dachte nochmals über die Zeilen de Montaignes nach. Er fühlte sich wohl in einer Umgebung, in der es mehr Menschen gleichen Geistes gab. Menschen, durch die er im intellektuellen Widerstreit vielleicht noch etwas lernen konnte, die aber auch an seinen Ideen interessiert waren. Sollte Paris nun doch zu seiner neuen Heimat werden? Er fiel in einen leichten Schlaf.
     
    Etwa zwei Stunden später erwachte er und machte sich auf den Weg zu seiner Verabredung. Man war rasch handelseinig. Monsieur de Coreur, ein alter, alleinstehender Adliger, der der Wissenschaft sehr zugetan war, verlangte zwanzig Prozent des Eintrittsgeldes, das Giordano für den Besuch seiner Vorlesung einheben wollte. Das Stadtpalais verfügte im Untergeschoss über drei etwa gleich große Säle, in denen Privatgelehrte Vorlesungen hielten. Giordano lauschte an den Türen, doch was er hörte, verleitete ihn nicht dazu, den Vorlesungen beizuwohnen. Er bedankte sich bei Monsieur de Coreur und verabschiedete sich. Mit Nägeln und einem kleinen Hammer befestigte er die Vorlesungsankündigung in der Nähe des Palais und der Universität und machte sich daraufhin auf den Weg Richtung Notre Dame. Der Duft von Weihrauch umfing ihn sofort, als er die Kathedrale betrat. Es war düster, nur ein paar meterhohe Kerzen warfen ihr karges Licht in die Dunkelheit. Hie und da knieten in Andacht versunkene Menschen in den Bankreihen. Mönche übten gregorianische Choräle. Einige Beichtstühle waren besetzt. Giordano drehte sich um und sah die riesige Rosette über dem Haupteingang. Ein unbehagliches Gefühl befiel ihn. Das Flackern der Kerzen schien den auf Stelen an den Wänden stehenden Heiligenfiguren Leben einzuhauchen. Giordano drehte sich, und mit ihm drehten sich die Kerzen, die plötzlich immer mehr zu werden schienen. Die Heiligen verschwanden hinter den Flammen, ja es schien, als würden sie von diesen verschlungen. Es war

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