Nacht des Orakels
Grimassen schneidend –, und als Richard das zum zweiten Mal in den Betrachter schob, traten ihm Tränen in die Augen. Das war das Bild, das ihn fertig machte, sagte er, das Bild, das ihm den Rest gab. Er stand dort auf dem Rasen mit drei Gespenstern, begriff er, er war der einzige Überlebende dieses Nachmittags vor dreißig Jahren, und als die Tränen einmal liefen, konnte er sie einfach nicht wieder zum Versiegen bringen. Er legte den Betrachter weg, nahm die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Er selbst hat dieses Wort benutzt, als er mir die Geschichte erzählte:
schluchzen.
‹Ich habe mir die Seele aus dem Leib geschluchzt›, sagte er. ‹Ich war vollkommen fix und fertig.›
Bedenkt bitte, ich erzähle von Richard – einem Mann, der keine poetische Ader hat, einem Mann mit dem Feingefühl einer Türklinke –, und doch konnte er, kaum dass er diese Bilder entdeckt hatte, an nichts anderes mehrdenken. Der Betrachter wurde für ihn zu einer Laterna magica, die es ihm ermöglichte, Zeitreisen zu unternehmen und die Toten zu besuchen. Er sah sich die Bilder morgens an, bevor er zur Arbeit fuhr, und er sah sie sich abends an, wenn er wieder zu Hause war. Immer in der Garage, immer allein, immer ohne Frau und Kinder – wie besessen kehrte er immer wieder zu jenem Nachmittag im Jahr 1953 zurück, er bekam einfach nicht genug davon. Zwei Monate hatte die Faszination schon gedauert, und dann kam Richard eines Morgens in die Garage, und der Betrachter funktionierte nicht mehr. Etwas hatte sich verklemmt, der Lichtknopf ließ sich nicht mehr betätigen. Er habe das Ding wohl überstrapaziert, sagte er, und da er es nicht reparieren konnte, musste er annehmen, dass das Abenteuer vorbei war, dass seine wunderbare Entdeckung ihm für immer genommen worden war. Ein katastrophaler, ein überaus grausamer Verlust. Die Dias ans Licht zu halten und so zu betrachten, war nicht möglich. 3- D-Bil der sind keine gewöhnlichen Fotos, man braucht den Betrachter, um sie in zusammenhängende Bilder zu übersetzen. Kein Betrachter, kein Bild. Kein Bild, keine Zeitreisen in die Vergangenheit mehr. Keine Zeitreisen mehr, keine Freude mehr. Und noch einmal Kummer, noch einmal Trauer – als müsse er die Toten, nachdem er sie ins Leben zurückgeholt hatte, noch einmal begraben.
So sah es aus, als ich ihn vor zwei Wochen traf. Der Apparat war kaputt, und Richard war noch immer dabei zu verarbeiten, was ihm da passiert war. Ich kann euch nicht sagen, wie sehr mich seine Geschichte gerührt hat. Die Verwandlung dieses etwas täppischen, gewöhnlichen Menschen in einen philosophischen Träumer, eine gequälte Seele, die sich nach dem Unerreichbaren sehnt. Ich botihm meine uneingeschränkte Hilfe an. Wir sind hier in New York, sagte ich, und da in New York schlechthin alles zu finden ist, gibt es hier garantiert jemanden, der das reparieren kann. Mein Enthusiasmus war Richard ein bisschen peinlich, aber er dankte mir für das Angebot, und dabei beließen wir es. Am nächsten Morgen machte ich mich ans Werk. Ich telefonierte herum, stellte Nachforschungen an, und nach zwei Tagen hatte ich den Inhaber eines Fotogeschäfts in der West Thirty-first Street ausfindig gemacht, der meinte, die Reparatur durchführen zu können. Richard war inzwischen wieder in Florida, und als ich am Abend anrief, um ihm die Neuigkeit zu verkünden, glaubte ich, er würde begeistert sein, und wir würden sofort besprechen, wie er den Betrachter einpacken und nach New York schicken könnte. Aber am anderen Ende der Leitung gab es erst einmal ein langes Schweigen. ‹Ich weiß nicht, John›, sagte Richard schließlich. ‹Ich habe seit unserem Treffen lange darüber nachgedacht, und vielleicht ist es doch gar nicht so gut, wenn ich mir dauernd diese Bilder ansehe. Arlene war schon richtig wütend, und um die Mädchen habe ich mich auch nicht mehr gekümmert. Vielleicht ist es besser so. Man muss doch in der Gegenwart leben, oder? Die Vergangenheit ist vergangen, und egal, wie viel Zeit ich mit diesen Bildern verbringe, ich werde sie nie mehr zurückholen können.›»
Das war das Ende der Geschichte. Ein enttäuschendes Ende, fand John, aber Grace widersprach ihm. Nach zwei Monaten des Umgangs mit den Toten sei Richard in eine gefährliche Lage geraten, sagte sie, daraus hätte sich womöglich eine schwere Depression entwickeln können. Ich wollte auch etwas dazu sagen, aber gerade als ich denMund aufmachte, um meine Meinung kundzutun, bekam ich
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