Nacht des Orakels
Ich selbst war auf dem Weg der Besserung, und dass Johns vorübergehendes Beinleiden ihr so zu schaffen machen sollte, schien mir wenig überzeugend. Der Grund für ihre Unruhe war etwas anderes, irgendein persönlicher Kummer, von dem sie mir nichts sagen wollte, aber ich wusste, wenn ich deswegen weiter in sie dränge, würde ich es nur noch schlimmer machen. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie langsam zu mir heran. Diesmal leistete sie keinen Widerstand. Ich spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten, und wenig später rollte sie sich neben mir zusammen und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ich legte ihr eine Hand auf die Stirn und strich ihr mit der Handfläche über die Haare. Das war ein altes Ritual zwischen uns beiden, Ausdruck einer wortlosen Vertrautheit, die uns weiterhin als Paar definierte, und da ich nie müde wurde, Grace zu berühren, nie müde würde, meine Hände irgendwo auf ihrem Körper zu haben, machte ich jetzt weiter, wiederholte die Geste Dutzende Male, während wir den West Broadway entlang auf die Brooklyn Bridge zukrochen.
Mehrere Minuten lang wechselten wir kein Wort. DasTaxi bog nach links auf die Chambers Street und hielt jetzt auf die Brücke zu; sämtliche Zufahrten waren verstopft, wir kamen kaum noch voran. Unser Fahrer, er hieß Boris Stepanovich, fluchte auf Russisch vor sich hin und beklagte damit zweifellos die Torheit, an einem Samstagabend nach Brooklyn fahren zu wollen. Ich beugte mich vor und sprach durch den Geldschlitz in der verschrammten Plexiglasscheibe mit ihm. Keine Sorge, sagte ich, Ihre Geduld soll belohnt werden. Ach?, sagte er. Was das heißen? Ein dickes Trinkgeld, antwortete ich. Wenn Sie uns unversehrt nach Hause bringen, bekommen sie das dickste Trinkgeld des Abends.
Als sie den kleinen Schnitzer hörte –
Was das heißen?
–, lachte Grace leise auf, und ich nahm das als Zeichen, dass ihre Depression allmählich verflog. Ich lehnte mich ins Polster zurück und begann wieder ihr Haar zu streicheln, und als wir mit einem Tempo von einer Meile pro Stunde die Zufahrt zur Brücke hochfuhren, die sich zwischen den hell erleuchteten Gebäuden hinter uns und der Freiheitsstatue rechts vor uns über den Fluss spannte, sprach ich zu ihr, sprach nur, um zu sprechen, um ihre Aufmerksamkeit festzuhalten und zu verhindern, dass sie sich wieder von mir entfernte.
«Ich habe heute Abend eine verblüffende Entdeckung gemacht», sagte ich.
«Was Gutes, hoffe ich.»
«Ich habe entdeckt, dass John und ich dieselbe Leidenschaft haben.»
«Ach?»
«Wir sind beide in die Farbe Blau verliebt. Speziell in eine jetzt aus der Produktion genommene Serie blauer Notizbücher, die früher in Portugal hergestellt wurden.»
«Na, Blau ist eine gute Farbe. Sehr ruhig, sehr heiter. Angenehm anzuschauen. Ich mag Blau so sehr, dass ich mir bei der Arbeit bewusst Mühe geben muss, nicht jeden Buchumschlag in dieser Farbe zu gestalten.»
«Drücken Farben wirklich Gefühle aus?»
«Aber sicher.»
«Und Charaktereigenschaften?»
«Wie meinst du das?»
«Gelb steht für Feigheit. Weiß für Reinheit. Schwarz für das Böse. Grün für Unschuld.»
«Grün steht für Neid.»
«Ja, das auch. Aber wofür steht Blau?»
«Weiß ich nicht. Hoffnung vielleicht.»
«Und Trauer. Melancholie. Die blaue Stunde.»
«Und denk an Vergissmeinnicht.»
«Ja, du hast Recht. Blau als Symbol für Treue.»
«Aber Rot steht für Leidenschaft. Da sind sich alle einig.»
«Die rote Gefahr. Die rote Fahne des Sozialismus.»
«Die weiße Fahne der Kapitulation.»
«Die schwarze Fahne der Anarchie. Die Grüne Partei.»
«Aber Rot steht für Liebe und Hass. Rot steht für Krieg.»
«Man trägt die Farben, wenn man in die Schlacht zieht. So sagt man doch, oder?»
«Ich glaub schon.»
«Hast du schon mal was vom
Farbenkrieg
gehört?»
«Nein, nicht dass ich wüsste.»
«Ich kenn das aus meiner Kindheit. Du bist im Sommer zum Reiten in Virginia gewesen, aber ich wurde von meiner Mutter in ein Feriencamp oben im Bundesstaat New York geschickt. Camp Pontiac, benannt nach demIndianerhäuptling. Dort wurden gegen Ende der Ferien alle Teilnehmer in zwei Mannschaften aufgeteilt, und in den nächsten vier oder fünf Tagen mussten jeweils verschiedene Gruppen der beiden Seiten gegeneinander antreten.»
«Antreten? Worin?»
«Baseball, Basketball, Tennis, Schwimmen, Tauziehen – sogar Eierlaufen und Wettsingen. Die Lagerfarben waren Rot und Weiß, und folglich hieß die eine Seite das Rote
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