Nacht des Orakels
war, war ich mir ziemlich sicher, dass die nichts mit mir persönlich zu tun hatten. Wie um das zu beweisen, legte Grace, kurz nachdem wir die Atlantic Avenue überquert und das letzte Teilstück der Fahrt vor uns hatten, mir die Hand auf den Nacken, zog mich zu sich heran, drückte ihren Mund auf meinen, schob ihre Zunge hinein und küsste mich lange und provokativ –
ein dicker Schmatzer,
wieTrause das genannt hatte. «Schlaf heute Nacht mit mir», flüsterte sie. «Sobald wir in der Wohnung sind, reiß mir die Kleider vom Leib und schlaf mit mir. Mach mich fertig, Sid.»
Am nächsten Morgen schliefen wir lange, kamen erst zwischen halb zwölf und zwölf aus den Federn. Eine Cousine von Grace war an diesem Tag in der Stadt; sie hatten sich für zwei im Guggenheim verabredet und wollten von dort noch zum Met, um sich die Dauerausstellung anzusehen. Bilder anschauen, das war Graces liebste Wochenendbeschäftigung, und als sie gegen eins aus dem Haus ging, war sie recht heiterer Stimmung. 6 Ich bot ihran, sie zur U-Bahn zu begleiten, aber sie war schon spät dran, und da die Station ein gutes Stück vom Haus entfernt war (oben an der Montague Street), meinte sie, ein hastiger Gang über eine so weite Strecke könne mich überanstrengen. Ich begleitete sie die Treppe hinunterauf die Straße, aber an der ersten Ecke verabschiedeten wir uns und gingen auseinander. Grace eilte die Court Street Richtung Heights hinunter, und ich schlenderte ein paar Blocks weiter zu Landolfi’s Candy Store und kaufte mir Zigaretten. Das war mein Spaziergang für diesenTag. Ich konnte es kaum erwarten, mich wieder an mein blaues Notizbuch zu setzen, und daher verzichtete ich auf den üblichen Gang durchs Viertel und kehrte auf direktem Weg nach Hause zurück. Zehn Minuten später saß ich am Schreibtisch in meinem Zimmer am Ende desFlurs. Ich schlug das Notizbuch auf, dort, wo ich am Samstag aufgehört hatte, und machte mich an die Arbeit, ohne noch einmal zu lesen, was ich bis jetzt geschrieben hatte. Ich nahm einfach den Füller und fing an.
6
Ein Großteil ihrer graphischen Arbeit war vom Betrachten anderer Kunstwerke inspiriert, und vor meinem Zusammenbruch Anfang des Jahres hatten wir unsere Samstagnachmittage oft in Galerien und Museen verbracht. Die Kunst hatte unsere Ehe in mancher Hinsicht überhaupt erst möglich gemacht, und ohne die Vermittlung der Kunst dürfte ich kaum den Mut aufgebracht haben, Grace Avancen zu machen. Es war mein Glück, dass wir uns in der neutralen Umgebung von Holst & McDermott kennen gelernt hatten, in der so genannten Arbeitswelt. Wären wir irgendwo anders aufeinander gestoßen – auf einer Dinnerparty, zum Beispiel, oder im Bus oder Flugzeug –, hätte ich mich nicht wieder bei ihr melden können, ohne meine Absichten preiszugeben, und ich spürte instinktiv, dass man sich Grace mit Vorsicht nähern musste. Wenn ich meine Absichten zu früh verriet, verspielte ich, da war ich mir fast sicher, von vornherein jegliche Chancen bei ihr.
Zum Glück hatte ich einen Grund, sie anzurufen. Sie hatte den Auftrag, den Umschlag für mein Buch zu entwerfen, und unter dem Vorwand, ich habe eine neue Idee mit ihr zu besprechen, rief ich sie zwei Tage nach unserer ersten Begegnung in ihrem Büro an und fragte, ob ich mal bei ihr vorbeikommen könne. «Jederzeit», sagte sie.
Jederzeit
erwies sich als schwieriger Termin. Ich hatte damals einen festen Job (als Geschichtslehrer an der John Jay High School in Brooklyn) und konnte unmöglich vor vier bei ihr im Büro erscheinen. Zufällig war Grace aber für den Rest der Woche mit Nachmittagsterminen ausgebucht. Als sie vorschlug, wir könnten uns am folgenden Montag oder Dienstag treffen, sagte ich, da habe ich eine Lesung außerhalb der Stadt (was übrigens stimmte, aber wahrscheinlich hätte ich es in jedem Fall gesagt), und nun gab Grace nach und meinte, sie könne am Freitag nach der Arbeit noch etwas Zeit für mich freihalten. «Um acht habe ich eine Verabredung», sagte sie, «aber wenn wir uns um halb sechs für eine Stunde oder so treffen, dürfte sich das machen lassen.»
Den Titel meines Buchs hatte ich von einer Bleistiftzeichnung von Willem de Kooning aus dem Jahre 1938 übernommen.
Selbstporträt mit imaginärem Bruder
ist ein kleines, präzise gearbeitetes Bild, auf dem zwei Jungen zu sehen sind: sie stehen nebeneinander, einer ein oder zwei Jahre älter als der andere, einer in langen Hosen, der andere in Kniehosen. Sosehr ich die Zeichnung
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