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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Amerika bekommen kann. Ich habe schon an den Hersteller schreiben und einige bestellen wollen.»
    «Der Mann im Geschäft hat mir gesagt, die Firma existiert nicht mehr.»
    «So ein Pech. Aber das wundert mich nicht. Offenbar gab es keine große Nachfrage danach.»
    «Ich kann dir am Montag eins besorgen, wenn du willst.»
    «Sind noch blaue da?»
    «Schwarz, rot und braun. Ich habe das letzte blaue gekauft.»
    «Schade. Blau ist die einzige Farbe, die ich mag. Wenn es die Firma nicht mehr gibt, werde ich mir ein paar neue Gewohnheiten zulegen müssen.»
    «Das ist schon komisch, aber als ich mir den Stapel heute Morgen angesehen habe, habe ich mich gleich fürdas blaue entschieden. Es hat mich unwiderstehlich angezogen. Was hat das zu bedeuten?»
    «Das hat gar nichts zu bedeuten, Sid. Nur dass du ein bisschen sonderbar bist. Und ich nicht weniger. Wir schreiben Bücher, stimmt’s? Was soll man von Leuten wie uns anderes erwarten?»

 
    Samstagabends in New York ist es überall voll, aber an diesem Abend herrschte in den Straßen ein noch größeres Gedränge als sonst, und wir kamen mit einigen Verzögerungen erst nach über einer Stunde zu Hause an. Grace gelang es zwar, direkt vor Johns Haustür ein Taxi herbeizuwinken, doch als wir einstiegen und dem Fahrer sagten, dass wir nach Brooklyn wollten, behauptete der, er habe nicht mehr genug Benzin im Tank, und schlug die Fahrt rundweg aus. Ich wollte ihn schon anpflaumen, aber Grace fasste mich am Arm und zog mich sanft aus dem Auto. Danach war kein Taxi mehr zu sehen, also gingen wir zu Fuß zur Seventh Avenue und mussten uns an Gruppen grölender, betrunkener Jugendlicher und einem halben Dutzend geisteskranker Bettler vorbeischieben. Im Village herrschte Hochspannung an diesem Abend, eine lärmende Tollhausatmosphäre, die jederzeit in offene Gewalt hätte umschlagen können, und ich fand es anstrengend, mich durch diese Massen zu bewegen, immer bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, indem ich mich an Graces Arm festhielt. Wir standen gut zehn Minuten an der Kreuzung Barrow und Seventh, ehe endlich ein freies Taxi heranfuhr, und Grace hatte sich inzwischenmindestens sechsmal entschuldigt, dass sie mich aus dem ersten gezogen hatte. «Tut mir Leid, dass ich dich davon abgehalten habe, dich mit ihm anzulegen», sagte sie. «Es ist meine Schuld. Natürlich dürftest du jetzt nicht hier draußen in dieser Kälte stehen, aber ich zanke mich nicht gern mit Idioten herum. Das regt mich zu sehr auf.»
    Aber Grace regte sich an diesem Abend nicht nur über idiotische Taxifahrer auf. Kaum waren wir in das zweite Taxi eingestiegen, begann sie unerklärlicherweise zu weinen. Nicht sehr heftig, kein hilflos bibberndes Schluchzen, aber in ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen, und als wir auf der Clarkson an einer roten Ampel hielten und das helle Licht der Straßenlaternen ins Auto fiel, sah ich diese glitzernden Tränen in ihren Augen stehen wie kleine, wachsende Kristalle. So etwas war gar nicht ihre Art. Grace weinte nie, überhaupt ließ sie ihren Gefühlen niemals freien Lauf, und selbst im größten Stress (zum Beispiel während meines Zusammenbruchs, und dann in den verzweifelten ersten Wochen meines Krankenhausaufenthalts) schien sie ein angeborenes Talent zu besitzen, die Nerven zu behalten und sich den finstersten Wahrheiten zu stellen. Ich fragte sie, was ihr fehle, aber sie schüttelte nur den Kopf und sah weg. Als ich ihr eine Hand auf die Schulter legte und die Frage wiederholte, schüttelte sie mich ab – und das hatte sie noch nie zuvor getan. Die Geste war nicht direkt feindselig, aber völlig untypisch für sie, und ich muss zugeben, sie hat mir einen kleinen Stich versetzt. Da ich mich ihr nicht aufdrängen und mir auch meine Kränkung nicht anmerken lassen wollte, zog ich mich schweigend in meine Ecke der Rückbank zurück und blieb so sitzen, während das Taxisich auf der Seventh Avenue mühsam in Richtung Süden bewegte. An der Kreuzung Varick und Canal standen wir minutenlang im Stau. Der Verkehr hatte sich ungeheuer verkeilt: hupende Autos und Lastwagen, Fahrer, die sich mit wüsten Beschimpfungen anbrüllten, New Yorker Chaos in seiner reinsten Form. Mitten in diesem wilden Tumult drehte Grace sich plötzlich zu mir herum und bat um Entschuldigung. «Er hat heute Abend so furchtbar ausgesehen», sagte sie, «so erschöpft. Allen Männern, die ich liebe, geht es schlecht. Ich kann das bald nicht mehr ertragen.»
    Ich glaubte ihr nicht.

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