Nacht des Orakels
wieder einmal mein grässliches Nasenbluten. Angefangen hatte das ein oder zwei Monate, bevor ich ins Krankenhaus gekommen war; die anderen Symptome waren inzwischen fast alle verschwunden, aber das Nasenbluten war geblieben – es schlug, wie mir schien, stets zu den ungelegensten Zeiten zu und brachte mich regelmäßig in größte Verlegenheit. Ich hasste es, mich nicht unter Kontrolle zu haben, zum Beispiel wie an diesem Abend in einem Zimmer zu sitzen und an einem Gespräch teilzunehmen, und dann plötzlich zu merken, dass ich heftig blutete, mir Hemd und Hose bekleckerte und nichts, aber auch gar nichts dagegen machen konnte. Die Ärzte hatten mich beruhigt – das sei gesundheitlich unbedenklich, es gebe keine Hinweise auf drohendes Ungemach –, aber das änderte nichts an meinem Gefühl der Hilflosigkeit und Scham. Jedes Mal, wenn Blut aus meiner Nase schoss, kam ich mir vor wie ein kleiner Junge, der sich in die Hose gemacht hatte.
Ich sprang aus dem Sessel, drückte mir ein Taschentuch ins Gesicht und rannte zum nächsten Badezimmer. Grace fragte, ob sie mir helfen könne, und ich muss ziemlich pampig geantwortet haben, aber was, das weiß ich nicht mehr. «Spar dir die Mühe», vielleicht, oder: «Lass mich in Ruhe.» Jedenfalls klang es so gereizt, dass John sich darüber amüsierte, denn ich erinnere mich deutlich, wie er lachte, als ich aus dem Zimmer stürzte. «Der große Geysir ist mal wieder ausgebrochen», sagte er. «Orrs menstruierender Zinken. Mach dir nichts draus, Sidney. Da weißt du wenigstens, dass du nicht schwanger bist.»
Es gab in der Wohnung zwei Badezimmer, eines aufjeder Ebene. Normalerweise hätten wir den Abend unten im Wohn- und Esszimmer verbracht, aber Johns phlebitisches Bein hatte uns auf die zweite Etage getrieben, denn dort hielt er sich jetzt die meiste Zeit auf. Der Raum oben war eine Art Ersatzwohnzimmer, eine gemütliche kleine Höhle mit großen Erkerfenstern, drei mit Regalen voll gestellten Wänden und eingebauten Nischen für den Fernseher und eine Stereoanlage – die ideale Enklave für einen Rekonvaleszenten. Das Bad auf dieser Etage ging von Johns Schlafzimmer ab, und um ins Schlafzimmer zu kommen, musste ich durch sein Arbeitszimmer gehen, den Ort, an dem er schrieb. Ich machte Licht, als ich dort eintrat, war aber so sehr mit meinem Nasenbluten beschäftigt, dass ich nicht weiter auf das Zimmer achtete. Eine geschlagene Viertelstunde lang stand ich im Bad, hielt mir die Nase zu und legte den Kopf zurück, und bis diese alten Hausmittel zu wirken begannen, strömte eine solche Menge Flüssigkeit aus mir heraus, dass ich mich fragte, ob ich nicht ins Krankenhaus fahren und mir eine Bluttransfusion geben lassen sollte. Wie rot das Blut auf dem Weiß des Waschbeckens aussieht, dachte ich. Welch lebhafter Phantasie diese Farbe entsprungen ist, welch ästhetischen Schock sie bewirkt. Verglichen damit sind die anderen Flüssigkeiten, die wir von uns geben, nichts als farblose, blasse Spritzer. Weißgrauer Speichel, milchiges Sperma, gelbe Pisse, grünbrauner Schleim. Wir scheiden Herbst- und Winterfarben aus, doch unsichtbar in unseren Adern, der Stoff, der uns am Leben erhält, strömt das knallige Rot eines wahnsinniges Künstlers – ein Rot, so leuchtend wie frische Farbe.
Als der Anfall vorbei war, blieb ich noch ein Weilchenam Waschbecken und tat mein Bestes, mich wieder präsentabel zu machen. Es war zu spät, die Flecken aus meinen Kleidern zu entfernen (sie waren zu kleinen rostroten Kreisen getrocknet, die beim Versuch, sie wegzuwischen, nur größer und unförmiger wurden), aber ich wusch mir gründlich Gesicht und Hände, klatschte mir Wasser in die Haare und kämmte mich mit Johns Kamm. Inzwischen tat ich mir etwas weniger Leid, fühlte mich etwas weniger angeschlagen. Hemd und Hose waren noch immer mit hässlichen Punkten verziert, aber der Strom war versiegt, und das Stechen in meiner Nase ließ zum Glück auch schon nach.
Als ich durch Johns Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer kam, sah ich zu seinem Schreibtisch hinüber. Ich sah nicht wirklich hin, ließ nur auf dem Weg zur Tür den Blick durchs Zimmer schweifen, aber es war nicht zu übersehen, dort lag, umgeben von Federhaltern, Bleistiften und chaotischen Papierstapeln, ein blaues, fest eingebundenes Notizbuch – auffallend ähnlich dem, das ich mir am Morgen in Brooklyn gekauft hatte. Der Schreibtisch eines Schriftstellers ist ein heiliger Ort, das privateste Heiligtum der Welt, dem Fremde
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