Nacht des Orakels
sich nicht ohne Erlaubnis nähern dürfen. Ich war noch nie in die Nähe von Johns Schreibtisch geraten, aber ich war so verblüfft, so neugierig herauszufinden, ob dieses Notizbuch tatsächlich das gleiche wie meines war, dass ich mein Taktgefühl vergaß und näher herantrat. Das Notizbuch lag geschlossen auf einem kleinen Wörterbuch, und als ich mich darüber beugte, um es mir genauer anzusehen, sah ich sofort, dass es ein exaktes Ebenbild dessen war, das bei mir zu Hause auf dem Schreibtisch lag. Aus Gründen, die mir noch immer unklar sind, geriet ich über diese Entdeckungin heftige Erregung. Was besagte es schon, was für ein Notizbuch John benutzte? Er hatte ein paar Jahre in Portugal gelebt, und zweifellos waren solche Notizbücher dort etwas ganz Gewöhnliches und in jedem Allerweltsladen zu haben. Warum sollte er nicht in ein blaues, fest eingebundenes Notizbuch schreiben, das in Portugal hergestellt worden war? Es gab keinen Grund, überhaupt keinen Grund, und doch empfand ich dies – angesichts der wundersam angenehmen Gefühle, die ich beim Kauf meines eigenen blauen Notizbuchs empfunden hatte, angesichts der produktiven Stunden, die ich an diesem Tag schreibenderweise damit verbracht hatte (meine ersten literarischen Bemühungen seit fast einem Jahr), und angesichts der Tatsache, dass ich den ganzen Abend bei John an eben diese meine Bemühungen gedacht hatte – als bestürzendes Zusammentreffen, als ein kleines Stück schwarzer Magie.
Ich hatte nicht vor, das zu erwähnen, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. Irgendwie war es zu verrückt, zu ichbezogen und persönlich, und ich wollte John nicht den Eindruck vermitteln, als hätte ich die Angewohnheit, in seinen Privatsachen herumzuschnüffeln. Doch als ich ins Zimmer trat und ihn mit hochgelegtem Bein auf dem Sofa liegen und mit grimmigem, frustriertem Blick an die Decke starren sah, überlegte ich es mir plötzlich anders. Grace war unten in der Küche, wusch das Geschirr und räumte die Reste unseres Essens weg, und ich nahm in dem Sessel Platz, in dem sie vorher gesessen hatte und der zufällig rechts vom Sofa stand, nicht weit von Johns Kopf. Er fragte, ob es mir besser gehe. Ja, antwortete ich, viel besser, und dann beugte ich mich vor und sagte: «Mir ist heute etwas sehr Seltsamespassiert. Auf meinem Morgenspaziergang habe ich ein Geschäft betreten und mir ein Notizbuch gekauft. Es war ein so vorzügliches Buch, ein so attraktives und reizendes kleines Ding, dass ich sofort wieder Lust zum Schreiben verspürte. Und sobald ich nach Hause kam, habe ich mich hingesetzt und volle zwei Stunden darin geschrieben.»
«Das hört man gern, Sidney», sagte John. «Du fängst wieder an zu arbeiten.»
«Die Flitcraft-Episode.»
«Ah, sogar noch besser.»
«Warten wir’s ab. Bis jetzt habe ich nur ein paar grobe Skizzen, nichts sonderlich Aufregendes. Aber das Notizbuch scheint mich zu beflügeln, ich kann es kaum erwarten, morgen weiterzuschreiben. Es ist dunkelblau, ein sehr angenehmes Dunkelblau, und hat einen festen Leineneinband. Hergestellt in Portugal.»
«Portugal?»
«In welcher Stadt, weiß ich nicht. Aber auf der hinteren Umschlagseite klebt ein kleines Etikett: MADE IN PORTUGAL.»
«Wie bist du denn bloß hier in der Stadt an so was geraten?»
«Bei mir in der Gegend gibt es einen neuen Laden. Paper Palace, der Inhaber heißt Chang. Er hatte vier davon vorrätig.»
«Ich habe mir diese Notizbücher immer auf meinen Reisen nach Lissabon gekauft. Die sind sehr gut, sehr stabil. Wenn man sie einmal benutzt hat, will man nie mehr in etwas anderes schreiben.»
«Dasselbe Gefühl hatte ich heute auch. Hoffentlich heißt das nicht, dass ich süchtig werde.»
«Sucht wäre vielleicht ein zu starkes Wort, aber außerordentlich verführerisch sind sie in der Tat. Sieh dich vor, Sid, ich benutze sie seit Jahren, ich weiß, wovon ich rede.»
«Das hört sich ja an, als seien die Dinger gefährlich.»
«Kommt drauf an, was du schreibst. Diese Notizbücher sind sehr freundlich, aber sie können auch grausam sein, und du musst aufpassen, dass du dich nicht in ihnen verlierst.»
«Für mich siehst du nicht verloren aus – und ich habe gerade eins auf deinem Schreibtisch gesehen, als ich aus dem Bad gekommen bin.»
«Ich habe mir einen großen Vorrat gekauft, bevor ich nach New York zurückgezogen bin. Leider ist das, was du gesehen hast, das letzte, das ich noch habe, und es ist schon fast voll. Ich habe nicht gewusst, dass man die in
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